Die Weste

In meiner weißen Weste sitz ich an diesem Tische,

die Schatten drängen sich verängstigt in eine Nische.

Der Zorn steht mir mit Blitz und Donner im Gesicht,

weil irgendjemand meine weiße Weste ficht!

Drum hat er mir aus lauter Bosheit einen schwarzen Fleck

an meinen Rücken rangekleckst.

Und alles Bürsten macht mich sauer, der Fleck wird nur noch größer

und meine Weste immer grauer.

alleinsein

Taumelnd nehm ich Schritt um Schritt aus Angst zu fallen,

meine Finger bohren sich in Fleisch wie Krallen,

denn mit jedem Schritt fühl ich mich mehr verloren,

ohne Halt.

Selbst der harte Teer auf dem ihr steht

schwabbt mir wie klebrig Harz an meine Lenden,

zieht mich tief hinab und reisst mir bei jeder Gegenwehr

Fetzen von Haut von meinem Leib.

Nimm mich an der Hand,

küss meine verweinten Augenlieder,

streichle meine Wangen,

sing mir Wiegenlieder.

Nur dann finde ich Frieden

und kann endlichen ruhn.

Warum fällt es dir nur so schwer zu tun,

was doch dein Herz dir aufgetragen?

Erst wenn du handelst

hör ich auf dich anzuklagen!

Statistisch

Zwei Tage prasselt der Regen nun schon auf mein Fensterbrett und hinterlässt kleine Schrapnelle aus Wasser auf meiner Fensterscheibe. Mein Atem kondensiert auf dem Glas während ich unentwegt nach draußen blicke. Würde ich nicht dauernd mit meinem Handrücken für klare Sicht sorgen, könnte ich schon längst nichts mehr sehen. Das meine Ärmel bereits nass sind stört mich nicht im geringsten. Tagsüber sitze ich hier, nachts warte ich draußen unter der Tanne, wenn der Regen sein Werk unterbricht trete ich sogar ein paar Schritte nach draußen, um mich zu strecken und meinen Nacken und die Wirbel zu entlasten. Ansonsten verliere ich keine Zeit mit unnützen Gedanken an Sinn und Unsinn meines Wartens. Im Gegenteil, es erfüllt mich in den schlimmsten Stunden sogar mit Stolz, den Schmerz und die Ungewissheit einfach hinzunehmen ohne mich von ihr entmutigen zu lassen. Es ist gut, dass ich alleine bin, es wäre schwer zu erklären was ich hier tue und es würde mich letztlich nur dazu zwingen all dies zu hinterfragen. Am dritten Tag lässt sich die Sonne wieder einmal blicken, nichts worauf ich gewartet habe, jedenfalls nicht bewusst. Der Regen mag zwar trister sein, doch bei weitem nicht so unbarmherzig wie die Sonne! Schon vor dem ersten nachmittäglichen Strahl habe ich einen schweren Sonnenbrand im Gesicht und an den Armen. Die Wahl meiner Kleidung erweist sich an diesem Tag als unzureichend, doch wäre sie so oder so falsch für meine Mission. Kleidung war nebensächlich. Ich beschließe aber dennoch sie anzubehalten. Weniger aus Nutzen, als aus Gewohnheit.
Am vierten Tag treten die ersten Blackouts ein. Um meinem Ziel nicht schon in der ersten Woche zu entgleiten beschließe ich wieder etwas zu trinken und auch ein paar Bissen Nahrung zu mir zu nehmen. Früher wäre mir nie in den Sinn gekommen zu fasten, jetzt geschieht das vollkommen selbständig. Triebe zu unterdrücken ist unmöglich, man kann sie nach hinten schieben, doch je mehr sie unter Druck geraten dabei, desto drängender stellen sie sich wieder in den Vordergrund, sogar auf Kosten des rationalen Verstands.
In der zweiten Woche ertappe ich mich tatsächlich dabei wie meine Finger im Gleichtakt auf das Fenstersims klopfen. Die Melodie kenne ich nicht, aber sie ängstigt mich. Nein, nicht die Melodie, mich ängstigt die Feststellung, dass ich nicht mehr damit aufhören kann. Mir entgleitet die Kontrolle. Nur das Ziel bleibt das Selbe.
Der Sommer ist heiss. Und mein Fenster wohl falsch gewählt. Südseite, freie Sicht bis zum Horizont. Unerträglich heiss. Mein erster Sonnenbrand ist mir noch in guter Erinnerung, denn die Haut schält sich immer noch in dicken Fetzen. Manchmal verbringe ich jetzt sogar Tage in einer unheimlichen Art Trance. Die Menschen unten vorm Fenster werfen mir verängstigte Blicke hoch, eilen vorbei als fürchten sie mein Blick könnte sie verhexen.
Im dritten Monat beginnt alles an mir zu jucken. Mein Geruchssinn nimmt Dinge wahr, die mir nie zuvor an einem Menschen aufgefallen sind, meine Gegenwehr fällt marginal aus, denn ich kann meine Gliedmaßen kaum noch bewegen. Vor 3 Wochen das letzte Mal gegessen, trinken kann ich noch, dank des Wasserschlauchs und eines Strohhalms. Das Wasser läuft aber so langsam aus dem Schlauch, das es bereits brackig schmeckt, wenn es meine Kehle nach unten rinnt. Irgendwann kurz danach setzt meine Erinnerung aus.
Die erste Frage, die in mir aufwallt, noch bevor ich meine Augen ganz geöffnet habe: “ Welches Datum!?“ Habe ich meine Mission erfüllt, mein Martyrium beendet? Das Licht das meine Augen tränen lässt kommt nicht von der Sonne, es ist nur das bläuliche Licht einer Deckenleuchte, allerlei neue unbekannte Geräusche raunen um mich herum, verbreiten das Gefühl fremd zu sein immer weiter im Raum. Trotz der Schwäche in mir flammt diese unzügelbare Neugier in mir und brennt darauf gestillt zu werden. Ein Schatten neben mir wird lebendig, war es vielleicht schon immer. Wasser tropft auf meine Lippen und ich versuche zu schlucken. Etwas in meiner Kehle verhindert es und ich muss husten. Der Schatten springt an der Wand hoch, wird deutlicher, macht Geräusche, ruft noch mehr Schatten in den Raum.

Es ist viel Zeit vergangen, meine Augen gewöhnen sich nur langsam und widerwillig an ihre Aufgabe, wollen nicht sehen nach all der Zeit. Alle meine Sinne fühlen sich an, wie in Watte gepackt. Anders hätten sie sich niemals einer so langen Prüfung unterzogen. Doch nun würde meine Zeit kommen. Ich bin mir sehr sicher, dass mein Ziel erreicht ist. Langsam löst sich meine Faust, eigentlich hätte ich Schmerzen empfinden müssen, so lange wie ich meine Finger nun schon geballt hielt – fünf Jahre!

Es müssen fünf Jahre sein! Solange wollte ich warten. Worauf fragt ihr? Auf nichts. Eine bessere Antwort werdet ihr nicht erhalten.

Der Zettel entgleitet mir, Reflexe die ihn halten könnten existieren nicht mehr.

Einer der Schatten verschwindet, bückt sich, hebt ihn auf. Dann verlischt das Gemurmel, weicht der Betretenheit. 5 Jahre.

Pressemeldung, 10.09.2000

Das Statistische Bundesamt in Deutschland hat ermittelt, das jeder Bundesbürger im Durchschnitt während seines gesamten Lebens annähernd 5 Jahre nur mit Warten verbringt.