Der Grenzgänger

Jedes Mal wenn ich hier her komme, ist es das Gleiche. Ich öffne die Augen und vor mir erstreckt sich ein Korridor, der so lang ist, dass sein Ende weit hinten in einem Fluchtpunkt verwischt, ohne das er wirklich endet. Selbst wenn ich hundert Schritte in die eine oder andere Richtung mache ändert sich das Bild, das sich mir bietet nicht im kleinsten Detail. Nur die näheren Objekte erscheinen in einer Deutlichkeit, die mir erlaubt überhaupt mein eigenes Fortschreiten festzustellen.
Leider macht das kaum einen Unterschied, denn die einzigen Gegenstände die mir ein gewisses Gefühl der Orientierung geben können sind die unzähligen Türen, die links und rechts in engen Abständen aus dem Korridor hinaus ins Unbekannte münden.


Hätte ich diesen Ort nicht genau aus diesem Zweck erfunden, wäre wohl ein gewisses Unbehagen nicht zu verhindern gewesen. Aber auch das war beabsichtigt.
Da es völlig unsinnig war sich eine bestimmte Türe auszuwählen ging ich einige Schritte in eine Richtung, wandte mich nach rechts und griff nach der Klinke der Pforte, die direkt vor mir wartete.
Ohne auch nur die geringste Vorstellung davon zu haben, was mich dahinter erwarten würde öffnete ich das monotone Holzgebilde dem ich den Namen Tür gegeben hatte und trat ein.
Noch bevor sich mein Verstand an etwas haften konnte wusste ich, dass ich mich fürchtete. Ich konnte förmlich riechen, wie sich die Angst in mir ausbreitete und als sie mich völlig ausfüllte schlug mich dieses Gefühl der Kontrolllosigkeit  mit voller Wucht in die Brust. Im nächsten Augenblick fühlte ich ein Stechen in meinem Knien, als ich mit meinem ganzen Gewicht auf sie stürzte. Hinter mir klickte die Tür mit einer verbrecherischen Ruhe ins Schloss. Dieses „Klick” war so endgültig, dass ich gar nicht wagte zu prüfen, ob sie sich noch öffnen ließ.
Das Besondere an diesem Ort ist, das er keinen Gesetzen gehorcht, zumindest keinen Gesetzen, die es einem Besucher erlaubten mehr Einfluss zu nehmen, als eine Schneeflocke die zu Boden fällt. Bewusstsein ist hier nur ein Gerücht, wenn auch ein Vehementes!
Meine im Schmerz zusammengekniffenen Lider entspannten sich langsam und einzelne Lichtstrahlen drangen zwischen meinen Wimpern hindurch. Die Helligkeit war so überwältigend umfassend, das dass Licht vor meinen Augen rot schimmerte als es durch meine Lider drang. Vorsichtig erlaubte ich mir einen Blick auf das, was mich nun erwartete.

Vor mir erstreckte sich ein sanft ansteigender Hügel in dessen Mitte sich ein wilder Pfad nach oben schlängelte. Außer frisch geschnittenem Gras bot er nichts, an das sich das Auge anheften konnte, bis sich der Blick der Kuppe des Hügels zuwandte, denn dort wuchs ein wirklich beachtlicher Baum, der seine Äste weit über der Kuppe ausbreitete. War ich gerade eben noch in der Zeitlosigkeit dieses ewigen Korridors gefangen, so bot sich mir nun der herrlichste Sonnenaufgang, den sich ein Mensch in seiner Phantasie zusammenträumen konnte. Doch etwas war anders.
Langsam schritt ich bis nach oben voran, überrascht, dass der Aufstieg sich tatsächlich so leicht bewältigen ließ. Als ich das Ende des Weges erreicht hatte war ich kaum außer Atem.
Doch die Sonne stand schon im Zenit, was die Frage aufwarf, ob meine Wanderung tatsächlich nur so kurz gewesen war.
Aber auch das durcheinander wirbeln der Kausalitäten hatte ich schon zu oft erlebt, um noch über die Maßen überrascht zu sein.
Noch etwas zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Unter diesem großen Baum, den ich am ehesten als Eiche bezeichnen würde lag eine Person.
Doch ihre Umrisse waren derart verschwommen, das es unmöglich war, genauere Aussagen über sie zu machen. Durch diesen Effekt entstand der Eindruck, dass das Wesen sich außerhalb der Zusammenhänge dieser Welt befand und ihr nur einen Besuch abstattet, genau wie ich es tat. Ich konnte nicht mit Sicherheit feststellen, ob es mich auf die gleiche Weise wahrnahm, oder ob ich überhaupt für seine Wahrnehmung existierte. Aber das spielte ohnehin keine große Rolle, meine Neugier war geweckt worden. Vielleicht war der Fremde, seine stattliche Statur ließ mich darauf schließen, dass es sich um ein männliches Wesen handelte, ja auch nur eine bizarre Laune dieser Phantasie. Oder aber es handelte sich tatsächlich um einen weiteren Reisenden, in diesem Fall wäre ein Kontakt beinahe eine Sensation. Menschen trafen sich schon auf allen möglichen Ebenen, aber hier drinnen war dies bisher für unmöglich gehalten worden – nun, ICH hatte es bisher vehement bestritten, um bei der Wahrheit zu bleiben. Denn alle Berichte und Forschungen, die auf dieses Gebiet zielten waren gelinde gesagt esoterisch.
Noch während ich mich der Stelle näherte, an welcher er ruhte konnte ich erkennen, was den Eindruck dieser Losgelöstheit verursachte. Es ließe sich wohl am besten mit einem optischen Summen vergleichen und wirkte, als ob mehrere gleiche Bilder sich ständig aufs Neue zu überlagern versuchten, so, als könnten sich seine früheren Versionen nicht dazu entschließen dem Fluss der Zeit zu folgen.
Und diese Zeitartefakte trieben langsam und widerwillig von ihm davon, um sich in einigem Abstand zu entmaterialisieren. Der Effekt machte fast den Eindruck als sei er gewollt, denn einige der überlagerten Artefakte bildeten unglaublich komplexe Muster, die eine Dynamik erzeugten, welche dem Ganzen eine unnachahmliche Komplexität und Eleganz verlieh.
Im Näher kommen blickte mich der Fremde neugierig an, aber ob er mich tatsächlich wahrnahm, oder nur durch etwas anderes seine Aufmerksamkeit in meine Richtung gelenkt hatte konnte ich natürlich nicht ausschließen. Mit einer geschmeidigen Bewegung erhob er sich und trat einen weiteren Schritt näher an den breiten Stamm des Baumes. Dann reckte er sich und versuchte, auf den Zehen stehend nach etwas in der Krone des Baumes zu greifen. Erst als er mir dabei den Rücken zudrehte erkannte ich, mit was ich es hier zu tun hatte. Auf der Höhe seiner Schultern wuchsen zwei riesige blendend weiße Flügel, die wegen des roten Lichts, das von oben herab strahlte in mit den Spitzen ihrer Federn das feurige Rot reflektierten, so das der Eindruck entstand sie würden lichterloh brennen.
Als er erkannte, dass das Objekt seiner Begierde viel zu weit weg war spreizte er die Flügel von sich, erhob sich mit einem kräftigen Schlag vom Boden, flog hoch hinauf und umkreiste das leuchtende Ding, das ich fälschlicher Weise mit der Sonne verwechselt hatte.
Dann griff er vorsichtig zu und rupfte sanft von seinem Stängel. Die „Frucht” wirkte auf mich einerseits sehr filigran und zerbrechlich, andererseits ging von ihr eine Wärme und Helligkeit aus, die man ihm nicht zutrauen würde. Langsam schwebte der Engel wieder in Richtung Boden, kam jedoch dabei immer weiter auf mich zu. Er hatte mich wohl doch bemerkt.
Die „Sonnenbaumfrucht” (der Name drängte sich mir förmlich auf.) in seinen Händen etwas von seinem Körper wegstreckend landete er neben mir und musterte mich mit neugierigen Blicken. Es kam mir gar nicht in den Sinn, ihn anzusprechen. Trotz unserer äußeren Ähnlichkeit war mir irgendwie bewusst, dass wir zu verschieden waren, um eine Verständigung zu erreichen. Also hielt ich seinem Blick stand und beobachtete ihn ebenfalls mit einer Neugier, die weit über eine rational-wissenschaftliche Betrachtung hinausging.
Gabriel, wie ich ihn für meine weiteren Gedanken nennen wollte schien sich wohl die gleichen Gedanken gemacht zu haben, denn auch er startete keinerlei Versuche mit mir in Kontakt zu treten. Stattdessen begann er damit, mich langsam zu umkreisen, was ich ruhig über mich ergehen ließ. Wieder vor mir angekommen lächelte er mich überraschend an und hielt mir seine „Beute” die Sonnenbaumfrucht entgegen. Als ich sein Geschenk nicht gleich annahm zog er die Frucht zurück und zeigte mir pantomimisch, wie er den Mund öffnete, einen großen Bissen daraus nahm und genüsslich kaute. Daraufhin streckte er mir das Geschenk erneut entgegen. Zögernd und etwas genötigt, weil mir nicht genug Zeit blieb, um eine richtige Entscheidung zu treffen griff ich nach der seltsamen Frucht. Als meine Finger über ihre Oberfläche strichen war ich eigentlich darauf gefasst gewesen mich zu verbrennen, aber sie war aus irgendeinem Grund angenehm kühl. Ein einmal angenommenes Präsent von sich zu stoßen konnte gefährlicher sein, als das Geschenk selbst, deshalb blieb mir nichts anderes übrig, als in den Apfel zu beißen, der mir angeboten worden war.
Trotz der Größe der Sonnenbaumfrucht bemerkte ich doch, wie mich Gabriel unverhohlen musterte. Seine Blicke wanderten mit nahezu kindlicher Neugier über meine Gestalt, so als betrachte er ein ihm unbekanntes Tier. Nachdem ich mich bereits dazu entschlossen hatte das Präsent anzunehmen wollte ich mein Gegenüber nicht dadurch beleidigen das ich zu lange zögerte, also biss ich ein kleines Stück aus der Frucht und war mehr als überrascht, dass ich dies nicht sofort büßen musste. Im Gegenteil, dieses eine Stück auf meiner Zunge brachte mir ein unerwartetes Gefühl des Verstehens, das ich mir nie erträumt hätte.
Um mich herum vollzog die gesamte Landschaft eine völlige Verwandlung, aber keine äußerlich sichtbare, sondern eine Art Metamorphose auf rein assoziativer Ebene. Es war, als wäre ich nach einer lebenslangen Reise endlich nach Hause zurück gekehrt. Der einzige Aspekt dieser Veränderung der auch nach außen gedrungen war, war meine Wahrnehmung von Gabriel. Die optischen Zerreffekte um ihn waren auf ein Mal verschwunden und ich sah ihn klar umrissen vor mir stehen, mit einem Ausdruck freudiger Erwartung in seinem Gesicht.
Vorsichtig nahm er mir die Frucht aus der Hand und hängte sie wieder in die Äste des Baumes, der sie freudig wieder aufnahm. Kaum da sie wieder dort oben hing erhellte sich ihre Leuchtkraft aufs Neue und die Sonne dieser Welt strahlte wieder weit in das umliegende Land. Er hielt noch einen Moment inne, dann drehte er sich wieder zu mir, lächelte während Tränen der Freude von seinen Wangen liefen. Kaum da sie den Boden berührt hatten wuchs das Gras an diesen Stellen und wurde satter und leuchtender in seiner Farbe und Blumen sprossen aus, die ich noch nirgends sonst auf allen meinen Reisen gesehen habe.
Jede seiner Tränen war voll von Leben, voll von Liebe und die Natur sog alles in sich auf.
Von der Erkenntnis der Frucht getrieben nahm ich ihn in meine Arme und hielt ihn, während er immer weiter so herzzerreißend weinte, konnte ich meine Gefühle nicht mehr beherrschen und begann leise zu schluchzen. Ich wollte nicht das er meine Anteilnahme sah, denn das hätte seine Heiligkeit in meinen Augen herab gesetzt.
So standen wir bis in die Ewigkeit und darüber hinaus und weinten und weinten. Irgendwann verlor sich die Trauer, blich die Freude aus, doch wir hörten nicht auf. Langsam kam die Flut, sie tastete sich vorsichtig die Flanken des Hügels empor, von allen Seiten, Tropfen für Tropfen hüllte sich diese Welt in Wasser, salziges Wasser. Wir hatten in dieser Ewigkeit einen ganzen Ozean erweint, vergessen waren die satten Gräser, die wunderschönen Blumen. Die Welt hatte sich in etwas Neues verwandelt und ich war ein Teil von ihr geworden.
Etwas an meiner Schulter regte sich, trat von mir weg, was so überraschend war, das ich fast nach vorne gestolpert wäre. Dunkel erinnerte ich mich an geteiltes Leid und geteilte Freuden als ich in das Gesicht blickte, das sich vor mir zeigte. So viele Jahre waren vergangen, alles erschien mir wie ein langer Traum, doch Erinnerung dämmerte wie die große orange Scheibe über mir. Ein geflügelter Mann legte mir seine Hand auf die Schulter, nickte grüßend, lächelte mich gütig und erleichtert an. Mit einem kurzen Schlag seiner mächtigen Flügel war er genauso schnell verschwunden, wie er gebraucht hatte um Teil meiner Erinnerung zu werden. Ein unangenehmes Gefühl des Alleinseins machte sich in mir bemerkbar, die Landschaft um mich herum kam mir von einem Augenblick auf den anderen so bedrohlich vor. Ich fühlte mich, als würde ich durch einen dunklen Korridor wandern, der vor Möglichkeiten und Unwägbarkeiten nur so überquoll, ich fühlte mich – wie zu Hause.
Noch auf dem Weg nach oben, zu der höchsten Stelle der kleine Insel auf der ich gestrandet schien, bemerkte ich, das mich das Meer immer weiter einschloss und der Flecken auf dem ich noch trockenen Fußes stehen konnte nach und nach immer kleiner wurde. In einigen Minuten würde ich bis zu den Knien herumwaten müssen. Panik breitete sich aus, ein besonders guter Schwimmer war ich noch nie gewesen. Daher kam mir der alte Baum mit seiner seltsamen Frucht sehr gelegen. Schon als ich meine Beine über die ersten Äste schwang klatschte unten das Meer mit leisem Glucksen an seinen Stamm. In letzter Sekunde!
Ich klettere hastig nach oben, traute mich nicht einen Blick nach unten zu werfen, um meine Chancen einzuschätzen, die kannte ich auch so. Das Wasser holte mich ein, wie eine Aufgabe, vor der man nicht davon laufen kann, es zerrte mich nach unten, immer tiefer in die Dunkelheit und als ich glaubte es ginge nicht mehr dunkler und schon fast aufgeben wollte, da sah ich ein grelles, sonnenhelles Licht. Ich schwamm darauf zu und versuchte es zu greifen. Tatsächlich fühlte ich etwas in meiner Hand, die Form war vertraut und es ließ sich bewegen, drehen! Vor mir tat sich eine Öffnung auf, eine Türe, dessen runden, metallenen ich in Händen hielt und vor mir lag ein großer dunkler Korridor, mit unzählig vielen verschlossenen Türen – jede von ihnen wartete darauf, von mir geöffnet zu werden, wie die unzählig vielen davor.

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