Chroniken des Flüsterns

Flüstern I – John und Johannes

„Kriegsberichterstatter würde mich ein kreativer Lügner wahrscheinlich nennen. So falsch ist das gar nicht, aber in Zeiten wie diesen sind Schönfärber rar. Nicht dass das Berufsbild ausstirbt, ganz im Gegenteil! Die Nachfrage lässt sich viel mehr kaum bedienen. Was ich hier mache, ist tatsächlich eine Form von Berichterstattung, nur ungemein gefährlicher. Ich bin Spion.

Keiner von der Sorte mit Abendgarderobe und goldener Handfeuerwaffe und auch keiner von der Trenchcoat tragenden. Beides wäre viel zu auffällig. Im Augenblick trage ich so gut wie gar keine Kleidung. Nur ein paar staubige und feuchte Fetzen. Nackt rum zu laufen wäre aller Wahrscheinlichkeit gesünder, aber wiederum zu auffällig. Obwohl… sicherlich, hier waren die Leute stolz auf jedes Stück Stoff, dass ihre Körper zu verhüllen half und als einer von ihnen zu gelten war meine einzige Möglichkeit lange genug zu überleben, wenn die Umstände sich änderten.

Ach ja, mein Name ist übrigens John. Nein, nicht John Smith, so billig bin ich nicht. Bleiben wir einfach bei John, das ist einfacher und ihr glaubt mir ja wahrscheinlich eh nicht, dass dies mein echter Name ist. Ich möchte auch nicht weiter auf meine Person eingehen, das wäre schlecht fürs Geschäft und, um eine Plattitüde zu bedienen, direkt proportional schlecht für meine Lebenserwartung.

Wenn ich schon nicht erzählen kann, wer ich bin, so kann ich euch zumindest darüber aufklären, was ich tue. Hier und heute bin ich ein Aufklärer, eine Wanze. Also im übertragenen Sinne. Ich habe natürlich auch irgendwann mal Kafka gelesen und kann euch versichern, dass ich noch immer und auch weiterhin ein menschliches Wesen bleibe. Was irgendwie doch auch Schade ist, weil es ziemlich praktisch wäre, so als Wanze.

Nennen wir mich lieber einen Lauscher, vergesst das mit der Wanze. Ich höre zu, wo niemand hören solle, an Orten, an denen man nicht erwarten würde schweigen zu müssen. Cooler Spruch, nicht wahr?! Wäre hervorragend dazu geeignet Frauen aufzureißen. Wenn es denn welche gäbe. Leider findet man hier kaum welche. Nicht, dass ich riskieren würde dieses Versteck zu verlassen. Frauen und Kinder sind nun mal die ersten, die man in Sicherheit bringt, wenn Gefahr droht und Krieg ist in gewisser Weise verdammt gefährlich. Darum und aus einigen anderen Gründen werde ich auf unbestimmte Zeit kaum dazu in der Lage sein mit coolen Sprüchen um mich zu werfen.

Aber genug von mir, reden wir lieber über den Grund meiner Anwesenheit, das ist viel spannender. Ich bin hier wegen meines Johannes! Was grinst ihr denn so? Nein, nicht mein „Johannes“, Johannes ist der Name meiner Zielperson, meiner Zunge, wie es im Agenten-Fachjargon heißt. Ich belausche Johannes… Hannes, damit der letzte Grinser auch endlich wieder konzentriert zuhört, weil er ein Mann ist, der seine Geheimnisse viel zu offen auf seinen Lippen trägt. Hannes ist der FEIND und er ist verdammt gut informiert. Deshalb bin ich hier. Seit drei Wochen schon. Ich bewege mich nur wenige Millimeter am Tag, verrichte alle Dinge des Lebens in diesen paar Kubikdezimetern und halte mein Ohr an jede Ritze, aus der ein Geräusch zu erahnen ist. Mit Erfolg! Ich konnte auf diese Art schon einiges an wertvollem Material sichern. Frontbewegungen, Truppenstärke und wichtige Materialverschiebungen. Johannes ist äußerst ergiebig, wenn ich das mal sagen darf.

Oh ich weiß, ihr denkt das wäre nicht sonderlich aufregend und so. Leugnet es gar nicht erst, ich höre es an der Art, wie ihr eure Stirn kraus zieht. JAWOLL! Hören ist Macht, verehrte Zuhörer!

Und ich bin nicht der einzige Lauscher, dass ihrs nur wisst. Als die Front immer näher rückte, haben sich mehrere Dutzend von uns freiwillig gemeldet. Eine letzte große Tat für Vaterland und Mutterboden. Ausgestattet mit allem Nötigen, um Monate zu überleben, ließen wir uns an jenen Orten einmauern, die der Feind aus strategischen Überlegungen für seinen Feldzug weiter benutzen musste. Genau wie die anderen ernähre auch ich mich mittels einer Magensonde. Dieser Schritt klingt sicher äußerst verzweifelt, doch war er nötig, da elektronische Abhörmaßnahmen heutzutage innerhalb kürzester Zeit entdeckt werden können. Meine gewonnen Erkenntnisse teile ich meinen Vorgesetzten mittels kleiner dressierter Fledermäuse mit, die einen winzigen Tonspeicher mit Mikrofon bei sich tragen. Um mich nicht durch meine Stimme zu verraten, befindet sich an meinen Stimmbändern eine Vorrichtung, welche die geformten Laute abnimmt und über Ultraschall an das Tier überträgt. Dadurch bin ich leider dazu verdammt stumm zu sein.

Ihr seht, wir haben an alles gedacht. An fast alles. Die Einsamkeit haben wir doch tatsächlich übersehen. Vor einer Woche hörte ich außen jede Menge Bewegung. Seither ist es still. Fast still. Ich glaube Johannes ist immer noch da, denn seit 3 Tagen höre ich ein stetiges Flüstern. Irgendjemand spricht dort sehr leise, fast verrauscht, ich erkenne die Stimme kaum.

Und ich bin schon zu lange in dem Geschäft, um zu glauben, was ich da höre. Auf psychologische Kriegsführung habe ich mich schon vor langer Zeit vorbereitet. Ich habe mich nicht umsonst freiwillig für diesen Einsatz gemeldet, wenn ich damit nicht umgehen könnte.

Der Sieg ist möglich, der Sieg wird kommen, es ist nur eine Frage des Willens!

Darum ist es mir egal, was diese Radiostimme dort draußen seit Tagen nuschelt. Der Krieg ist nicht zu Ende. Der Krieg endet, wenn wir gewonnen haben! Der Wahrheitsgehalt von Worten ist indirekt proportional zu ihrer Lautstärke. Hallo? Hört mich denn niemand?

Flüstern I – John und Johannes

Flüstern II – Jasmin

„Pssssst! Immer nachts kommt das Monster. Aber nicht jede Nacht. Manchmal kommt es eine ganze Woche nicht. Das klingt jetzt komisch, ich weiß, aber in dieser langen Zeit fürchte ich mich sogar noch mehr vor ihm. Weil dann nämlich alles so schlimm normal ist und ich anfange es zu vergessen und Sachen die man vergisst in der Erinnerung noch dunkler und bedrohlicher aussehen. Und dann halte ich mich an dem Teil fest, der noch da ist. Den, den ich nicht vergessen habe und zwar ganz doll, damit ich den nicht auch noch vergesse und dann alles so ist, als hätte ich es nur geträumt und es wäre gar nicht echt.
Aber es ist echt! Total echt! Und ich bilde mir das gar nicht nur ein, wie Mami das immer meint. Ich habe ihr schon oft von dem Monster erzählt, und dass es durch mein Zimmer schleicht, wenn es dunkel ist. Aber sie lächelt dann nur ganz seltsam und tut so, als würde sie mit einem Besenstil unterm Bett und in den Schränken rumstochern, um es zu vertreiben. Dabei habe ich ihr doch gesagt, dass das Monster durch die Türe rein kommt!

Ganz leise schleicht es herein. Außer wenn ich mal wieder Spielsachen nicht weg geräumt habe und mein Zimmer aussieht, wie ein Saustall, wie Papa es dann nennt. Dann keift und keucht es, immer flüsternd, nie laut. Und das Flüstern ist dann, wie wenn ich mit dem Messer auf einem Teller abrutsche, so quietschig, dass einem fast die Zähne wehtun.
Am allerliebsten würde ich dann aus dem Bett hüpfen und zu Mama ins Bett krabbeln, aber meine Beine können sich vor lauter Angst nicht bewegen. Das ist fast wie bei Puhbär, als er Mal in einen großen Topf Honig gepurzelt ist, nur ist es bei mir ein großer Topf klebriger Angst. Wenn es keinen Krach macht, merke ich oft erst gar nicht, dass das Monster wieder da ist. Ich wache dann immer erst auf, wenn das Flüstern beginnt und das traurige Stöhnen und wenn es mir weh tut, wenn es mich gepackt hält.

Ich verstehe nicht alles, was es dann so tuschelt, eigentlich will ich es überhaupt nicht verstehen. Ich will, dass es sich in Luft auflöst und aufhört mir weh zu tun. Dann versuche ich mir die Ohren doll fest zuzuhalten, aber es hält mich auch an den Armen fest und dann höre ich seine Stimme und Sachen, die ich gar nicht verstehe aus seinem Mund. Es muss ein ziemlich dummes böses Monster sein, denn es sagt Sachen wie: ‚Bald ist alles vorbei‘ und ‚Ich tu das nur, weil ich dich so lieb habe‘ oder ‚Es tut gar nicht weh!‘.
Wenn es das sagt, tut es aber wirklich ganz fest weh, wie Zwicken! Und Mami sagt doch dauernd, es ist nicht gut jemand zu zwicken und schon doppelt gar nicht, wenn man jemand lieb hat!
Und all das flüstert das Monster ganz leise, gepresst in mein Ohr, aber es blickt mir nie in die Augen danach. Manchmal sehe ich sie trotzdem und sie sind dann wie schmutzige Fensterscheiben, aus denen niemand mehr hinaus gucken mag.
Als ich heute mit meiner Puppe Geheimnis gespielt hab und dabei flüsterte, hat Papa mich gehört und dann kam er her und sagte sehr ernst: ‚Wer flüstert lügt!‘.

Ob das Monster das auch weiß?“

Flüstern II – Jasmin

Flüstern III – Simon, Judith und ein kleiner Engel

„Zeit ist relativ. Damit meine ich nicht die Betrachtungsebene, die Physiker hier und da einnehmen, wenn sie mit dem einen oder anderen Stein um sich werfen. Zeit ist in erster Linie dann relativ, wenn man sie mit den unterschiedlichen Lebensabschnitten in Beziehung setzt.

Als Kind nehmen wir Zeit vollkommen anders wahr, packen unzählige Ereignisse, Gedanken und Erkenntnisse in Pikosekunden. Wenn wir dann älter werden, werden die Ereignisse zählbar, manchmal sogar berechenbar, um das Bild auf der mathematischen Ebene zu halten.

Die Gedanken sind tiefgründiger, mindestens komplexer und Erkenntnis weich dem Gefühl, bereits alles erkannt zu haben. All das braucht Zeit.
Ich lernte Judith in einer Bibliothek kennen. Vermutlich hätten wir uns auch in einer Kirche, einer Oper oder bei einer Partie „Stille Post“ kennen lernen können. Aber die Bibliothek lag neben meiner Uni und ich arbeitete dort zwei Mal die Woche, um mein BaföG etwas aufzubessern.

Meine zwei Hauptfächer waren Physik und Philosophie, beide nicht sonderlich dazu angetan, um andere Menschen zu beeindrucken. Aber was macht man sonst, wenn man gut in Mathe ist und einen dauernden Drang verspürt, hinter die Dinge zu sehen? Irgendwann mit 17 oder 18, kurz vor meinem Abitur, wurde mir klar, dass ich von der Wissenschaft allein keine befriedigenden Antworten erhalten würde. Theologie war mir zu irrational, noch dazu hätte ich nicht gewusst, wie ich anderen Menschen von einem Gott erzählen sollte, der nicht der ihre war. Mein Glaube war stark, aber er entsprach keiner „reinen Lehre“.

So kam es also, dass Judith mir irgendwann begegnete. Sie war ein Semester unter mir, eine angehende Biologin. Ich hatte mich damals gewundert, dass sie mir erst so spät aufgefallen war, ehe ich erfuhr, dass sie drei Semester in Wiesbaden studiert hatte und wegen des guten Rufs an meine Uni gewechselt war.

Ich würde euch jetzt gerne erzählen, wie wir uns auf unheimlich romantische Weise kennen lernten, aber Romantik liegt mir nicht sonderlich. Ich halte sie für etwas sehr intimes, das an Qualität verliert, wenn zu viele Unbeteiligte daran teilhaben. Judith war auf der Suche nach einem Fachbuch zu mir an den Schalter gekommen und als sie mir versicherte, bereits in dem von mir genannten Regal danach gesucht zu haben, machte ich mich auf, den verschollenen Band für sie zu suchen. Jemand hatte sich erlaubt, das Buch in ein benachbartes Regal zu stellen und damit Sinn und Nutzen eines Ablagesystems zu konterkarieren. Studenten – allesamt Anarchisten!

Gott sei dank! Stände ich sonst hier im Halbdunkel?

Unter meinen Augen regte sich etwas Lebendiges. Ein leises Grummeln und alles war wieder so ruhig wie zuvor. Zwei ruhige Atemzüge beherrschten die Geräuschkulisse für einen endlosen, wunderbaren Augenblick. Und wurden durch einen nur allzu bekannten Laut unterbrochen. Nicht, dass man ihn besonders deutlich vernommen hätte, es war mehr wie ein imaginäres Schnurren, viel mehr ein Leise, als ein Laut.

Jedes Mal, wenn Judith aus dem Bett kroch, knackten die Knöchel ihrer Füße, sehr dezent, eines der vielen Details, das ich lieben lernte. Als ich es vernahm schloss ich meine Augen. Ich wartete darauf, das sich ihre Arme um meine Schultern schlängelten und sanfte Küsse in meinem Nacken einen angenehmen Schauer auf meinen Rücken zauberten.

Solche Momente bedürfen keiner Worte oder großer Gesten, ein simples „Ich bin da“ füllte sie über Maß.

Vier Jahre lagen zwischen dem Jetzt und diesem Tag in der Bibliothek. So eng an mich gepresst gelang es ihr immer noch mich zu verzaubern. Ich war so in ihren Bann geschlagen, dass ich sogar vergaß, wie durchgefroren sich meine Füße auf den kalten Fließen anfühlten.
Und es war ja tatsächlich Magie, oder?
Ich kenne als Physiker jede Menge Gesetzmäßigkeiten, die das Verhalten von Materie beschreiben und der Philosoph in mir könnte allerhand Metaphorisches produzieren, wenn ich die Zügel etwas lockerer ließe.

Doch nichts, gar nichts kann erklären, wie wir dieses Wunder erschufen. Der Akt der Schöpfung bleibt hinter ihrer Erscheinung zurück, verliert durch ihre Wunderlichkeit völlig an Bedeutung. Schon ein einziger Atemzug reicht, um sie vergessen zu machen.

Darum ist es unwichtig, was vor dem Urknall war, es verliert sich in der Herrlichkeit dessen, was an seine Stelle trat.

Weil auf den einen Atemzug schon der nächste folgt!

Genau aus diesem Grund standen wir hier. Zwei Menschen, die sich lieben. Schweigend, aber nicht stumm, eines der größten Wunder ihres bisherigen Lebens betrachtend, das seelenruhig schlummernd vor ihnen in einem Bettchen lag.

Flüstern III – Simon, Judith und ein kleiner Engel

4 Gedanken zu „Chroniken des Flüsterns

  1. Hach, schaurig – gruselig – schön.
    Ich bin leider immer viel zu begeistert, wenn ich mal was echt Neues lese, was es so noch nicht gab, dass ich nichtmal vernünftig kritisieren kann.

    Das jeweilige Gefühl ist jedenfalls in jeder Geschichte „richtig ausgelöst“ worden. Ich bin ganz ergriffen.

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