„Hey Chef?“, sagte ich schon zum dritten Mal. Der Kerl war so in das Spiel mit zwei Würfeln vertieft, dass meine Stimme nicht zu ihm durchdrang. Sein fast leeres Glas Gin teilte sich den Platz vor ihm mit vier weiteren, allerdings leeren Brüdern.
„Letzte Runde, Chef!”, versuchte ich es anders.
Suffbrüder wie der hier wurden erst hellhörig, wenn man ihnen den Sprit abdrehte. Und tatsächlich hatte ich ihn wohl erreicht.
„Letzte Runde?”, wiederholte er. „Letzte Runde, letzte Runde, letzte Runde! Ha! Wie recht sie doch haben!” Trotzig blickte er in seine halb geöffnete Handfläche. Darin lagen die zwei Würfel. Sie sahen aus wie aus Glas gefertigt. Dann ließ er sie langsam auf den Tisch gleiten.
Die beiden Spielsteine purzelten übereinander, über den Tisch und kamen letztlich zur Ruhe. Und das Gesicht des Mannes wurde kreidebleich.
„Alea iacta est!”, flüsterte er und blickte mir in die Augen.
„Glauben sie an ein Leben nach dem Tod?” begann er begann er ohne seinen Blick von mir zu lösen mit seiner Geschichte. „Ich bin Zahnarzt, müssen Sie wissen. Freitags habe ich keine reguläre Sprechstunden Termine, da führe ich normalerweise Operationen durch. Das klappt eigentlich immer und für Notfälle habe ich natürlich auch immer einen Puffer in meinem Terminplan.
Es muss um kurz nach siebzehn Uhr gewesen sein, mein letzter Patient hatte gerade eine erfolgreiche Wurzelkanalbehandlung hinter sich und ich freute mich auf einen doch recht frühen Start ins Wochenende. Als ich das Behandlungszimmer verließ, teilte mir Katja, meine Arzthelferin, mit, dass sich doch noch ein Patient im Wartezimmer befände, dessen Beschwerden wohl akut wären.
In diesem Moment dachte ich mir noch nicht viel dabei. An und für sich ist es nicht ungewöhnlich und man lebt als Arzt irgendwann mit den langen Arbeitszeiten. Als ich aber ins zweite Behandlungszimmer kam, war ich doch überrascht, saß da doch ein total runzeliges Männchen in einer schmutzig grauen Kutte.
Hätte ich sein Alter schätzen müssen, wäre es mir schwer gefallen aus Höflichkeit zu lügen. Der Mann war mindestens 100 Jahre alt, versprühte aber genauso viel Lebensfreude, wie ein Fünfjähriger! In seinen Augen blitzte ein Witz, über den er seit ungefähr 80 Jahren genüsslich lächelte.
Er stand auf, als ich den Raum betrat und begrüßte mich mit einem Händedruck, der außergewöhnlich war, deutete er doch eine Stärke an, die Granit überzeugen konnte, wurde aber von einer Höflichkeit in Zaum gehalten, die unter die den meisten Menschen ihresgleichen suchte.
Ich war ohne zu übertreiben zutiefst beeindruckt und kam nicht umhin ihn verwundert anzusehen, bis mir klar wurde, wie unhöflich das wirkte. Dank meiner langjährigen Berufserfahrung gelange es mir, meine Fassung zurück zu gewinnen.
Schließlich war der Alte immer noch ein Patient und damit von meiner Expertise abhängig. Ich deutete ihm also, wieder im Behandlungsstuhl Platz zu nehmen und fragte sachlich nach der Art seiner Beschwerden. Bisher hatte er nichts gesagt und ich fragte mich langsam, ob er überhaupt meine Sprache verstand. Noch während ich mein verschüttetes Englisch ausgrub, antwortete er mir in perfektem Deutsch.
„Ich bin mir nicht sicher, Herr Doktor. Vielleicht werfen sie lieber selber einen Blick darauf.” Mit diesen Worten lehnte er sich zurück, öffnete seinen Mund und wartete.
Etwas verdutzt, aber immer noch professionell zog ich mir ein paar Einweghandschuhe über und nahm wie gewöhnlich meinen Dentalspiegel zur Hand. Als ich mich über das Mönchlein beugte und das Licht auf seinen Mund justiert hatte, traf mich die nächste Überraschung: Sein Mund war auf den ersten Blick vollkommen zahnlos! Als ich ihn schon wütend zur Rede stellen wollte, sah ich, dass ich mich geirrt hatte.
Unter seiner Oberlippe versteckte sich noch ein Schneidezahn, der jedoch schon so wackelig war, dass er sich nach hinten umgelegt hatte. Da mir mein aufkeimender Ärger nun peinlich war, schluckte ich alle bissigen Bemerkungen hinunter und arbeitete mein übliches Programm ab. Nachdem ich damit fertig war, das restliche Gebiss zu begutachten, was tatsächlich sehr schnell ging, bat ich dem Patienten, seinen Mund auszuspülen.
„Nun, Herr … entschuldigen Sie, aber mir ist Ihr Name entfallen.”
„Oh, das macht nichts. Mein Name ist Wang, Meister Wang, vom Orden der Steinernen Lotusblüte.”, erläuterte er mir und unbeabsichtigt drängte sich mir die Frage auf, wie er ohne Zähne so makellos und betont sprechen konnte.
„Ich bin mir nicht ganz sicher, was Sie von mir erwarten.”, sagte ich unverhohlen. „Die meisten meiner Patienten kommen zu mir, bevor ihnen sämtliche Zähne im Mund fehlen. Da sie nun aber einmal da sind: ihr letzter Schneidezahn rotiert in ihrem Kiefer wie ein Karussell und der einzige Backenzahn den sie noch besitzen sieht aus, als wäre die Armada aus Kariesbakterien nach der Arbeit an ihrem Gebiss dort hin gepilgert, um sich etwas auszuruhen. Ich fürchte, ich muss beide Zähne entfernen, es tut mir leid.” Damit endete meine Diagnose.
Statt resigniert in den Stuhl zu sinken und zu klagen, wie es jeder andere Patient getan hätte, straffte der alte Mann seine Gestalt, lächelte vergnügt und meinte „ Na, das ist ja großartig, Doktor! Man hat sie mir als Mann der Tat empfohlen! Also los, fangen wir an.”
Glauben sie mir, liebend gern hätte ich in dieser Minute etwas total Geniales erwidert. Nur fiel mir partout nichts ein. Hätte mich jemand fotografiert, wäre das ein perfektes Bild für jede Fachzeitschrift geworden.
‚Der engagierte Arzt erklärt dem Patienten, wie er seinen Mund öffnen soll‘
Als ich die Überraschung endlich abgestreift hatte, war der Zeitpunkt für einen coolen Kommentar verstrichen und ich überspielte dies, indem ich nach Katja rief. Nachdem sie eingetreten war, bat ich sie darum, alles für eine Extraktion vorzubereiten. Während sie in ihrer eigenen Routine durch den Raum wuselte, widmete ich mich wieder dem Mönch.
„Ich werde zuerst ihre Nerven mit einer kurzen Betäubung ruhig stellen und dann beide Zähne mit dieser Zange hier”, ich deutete auf mein Tablett „entfernen. Die Betäubung ist sehr umfassend, sie sollten also nichts weiter spüren, als ein leichtes Ziehen.” Plötzlich war ich mir selbst nicht mehr so sicher, ob alles so einfach ablaufen würde. Die Präsenz dieses Mannes verwirrte mich mehr, als ich zugeben wollte.
Hatte er nicht auch eben etwas gesagt? „Pardon, was meinten Sie?”, fragte ich, gleichzeitig die Spritze aufziehend.
„Ich wollte fragen, ob ich auf dieses Mittel auch verzichten könnte?”
Jetzt war der Knoten geplatzt. Wollte der Typ mich etwa verarschen? Niemals in meiner langjährigen Berufspraxis wollte jemand freiwillig bei einer Extraktion auf Schmerzmittel verzichten! Im Gegenteil. Gerade dabei bettelten die meisten Patienten sogar um eine Extradosis, aus Angst es könnte doch wehtun!
Nur mühsam unterdrückte ich einige bissige Bemerkungen und klärte den Kerl über die Tragweite seiner Entscheidung auf. „Daran sollten Sie besser nicht einmal denken. Bei dem Schneidezahn wäre das noch im Rahmen des Möglichen, der fällt wahrscheinlich schon bei einem zu ernsten Blick aus, aber bei Weisheitszähnen wird die Sache oftmals ungemütlich. Hätten Sie noch ein vollständiges Gebiss, würde ich sie vermutlich nur röntgen, um sie danach zu einem Kieferchirurgen zu überweisen! So einen Zahn ohne lokale Betäubung zu entfernen wird ungeheuer schmerzhaft!”
„Ihre Expertise in allen Ehren, Herr Doktor. Aber wenn es nur um die Schmerzen geht, dann soll es daran nicht scheitern. In den vielen Jahrzehnten, die ich nun schon auf dieser Erde wandle habe ich gelernt, dass Schmerz zu einem großen Teil aus Angst besteht. Weder das eine noch das andere können einem Mann meines Alters noch etwas anhaben. Würde ich aber einen Teil von mir selbst verlieren, ohne diesen Verlust ausreichend zu würdigen, hätte ich mich um eine Erfahrung betrogen, deren Wert mir niemals bewusst werden würde. Sie müssen mir zustimmen: Man wird nur ein Mal in seinem Leben völlig zahnlos.”
Diese obskure Erklärung musste ich erst einmal verdauen. Hätte er mir einfach gesagt, dass eine Anästhesie gegen seine religiösen Grundsätze verstößt, hätte ich das kommentarlos akzeptiert. So aber musste ich der Sache mehr als nur ein flüchtiges Achselzucken widmen.
Verdammt! Der alte Sack hatte mir definitiv das Wochenende verdorben. Und die nächsten Wochentage vermutlich gleich mit. Alles was ich jetzt noch wollte, war, diesem Kerl von seinem restlichen Gebiss zu befreien und ihn dann schnellstmöglich vor die Tür zu setzen. Im Geist machte ich mir eine mentale Notiz mit drei großen Ausrufezeichen dahinter: Nie wieder!!!
Ich legte die Spritze zurück, fasste aber den Beschluss, sie ihm trotzdem zu berechnen. Dann nahm ich die Zange und wollte mit der Arbeit beginnen. Als ihre Backen sich um die riefige Oberfläche des Schneidezahns legten und ich zu ziehen begann, wand sich das kleine Mistding doch tatsächlich aus der Umklammerung.
Hielt ich es bei den ersten beiden Versuchen noch für ein Missgeschick, wusste ich beim sechsten Mal, dass ich an der Nase herum geführt wurde. Wütend ließ ich von meinen fruchtlosen Bemühungen ab und die Zange fiel mit so lautem Scheppern auf das Tablett, dass Katja erschrocken aufsprang. Auch ihr war die Verwunderung über dies Situation ins Gesicht geschrieben. Der einzige, der sich sichtlich amüsierte, war der Mönch. Sein Lächeln hätte wohl gutmütig wirken sollen, seine Wirkung auf mich war eine gänzlich andere.
Mit ruhiger Stimme erkundigte er sich nach meinen Fortschritten. Als ich ihm erklärte, dass ich bisher nicht das Geringste erreicht hatte, lächelte er wieder allwissend und meinte: „Oh, das tut mir leid. Ich hätte Ihnen vielleicht gleich eine andere Reihenfolge vorschlagen sollen. Ich fürchte, meine Zähne haben eine eigene Vorstellung davon, welcher von ihnen zuerst gezogen werden will. Wären Sie also so freundlich und würden ihre Bemühungen fürs erste auf meinen Backenzahn konzentrieren?”
Das war doch Wahnsinn! Der Typ musste total verrückt sein. Zähne mit Vorstellungen?! Sollte ich nicht lieber die Polizei rufen? Der Mann war tatsächlich krank, aber er hatte nur sekundär ein zahnmedizinisch behandelbares Problem! Wenn ich aber die Polizei informierte, würde das den Tag nur noch weiter in die Länge ziehen. Also doch lieber Zähne zusammen beißen und durch?!
„Also gut.”, sagte ich nach einigem Nachdenken. „Machen wir es auf ihre Weise.”
Ich nahm also die Zange wieder zur Hand. Mein Blick wanderte dabei zu Katja. Ihr Gesicht war ziemlich blass und ich wusste plötzlich, dass ich das hier alleine zu Ende bringen musste. Mit einem knappen Nicken und einem Blick in Richtung Tür bedeutete ich ihr zu gehen. Zaghaft, als traue sie ihren Beinen nicht, stand sie auf, entschuldigte sich mit einer Notlüge, lächelte dankbar in meine Richtung und ging.
„Selbstverständlich müssen sie sich um ihre kranke Mutter kümmern.”, meinte der Patient „Ein Baum, der seine Wurzeln vergisst, vergisst irgendwann auch sich selbst!”, rief er ihr noch hinterher, aber da war Katja schon längst aus der Tür.
Ich versuchte, das eben Gehörte zu ignorieren. Was mir natürlich nicht einmal annähernd gelang.
„Wenn sie dann so weit sind.”, wandte ich mich Wang wieder zu, denn der hatte seinen Blick immer noch in Richtung Tür gewandt.
„Ja, selbstverständlich Herr Doktor”, erwiderte er leise, ehe er sich wieder in die Stuhllehne sinken ließ.
Mit einem etwas zu lauten „Aaaaah” öffnete er seinen Mund und ich nahm meine Arbeit wieder auf. Dachte ich. Doch je weiter ich mich dem halb verfaulten Weisheitszahn näherte, desto länger dauerte es, bis ich vorankam. Ich strengte mich so sehr an, dass mir der Schweiß auf die Stirn trat, kam damit meinem Ziel aber nur unmerklich schneller näher.
„Dauert es noch lang?”, fragte mich der Mönch nuschelnd. Er wusste, dass ich wusste, dass er mich schon wieder an der Nase herum führte! Ich zog die Hand wieder aus seinem Mund – besser – ich versuchte es. Jedoch ohne Erfolg.
„Was ist los, Doktor?”, nahm Wang den Faden wieder auf. „Sie haben es schon fast geschafft, das fühle ich ganz deutlich. Der Weg nach vorne ist jetzt kürzer, als der Weg zurück. Geben sie nicht auf!”
„Aargh!”, schrie ich. Nicht, um mich noch ein letztes Mal zu motivieren, sondern weil sich mein Ärger nun endgültig Luft machte. „Das kann doch wohl nicht wahr sein!”, fuhr ich den alten Mann an. „Lassen sie gefälligst meine Hand los!”
„Ich würde, aber ich kann nicht.”, meinte der Alte, immer stärker nuschelnd. Es bereitete mir schon deutlich Mühe, ihn noch zu verstehen. Wütend wie ich war, ließ ich es mir nicht nehmen, ihm ein lächerlich unsinniges „Verdammt, nuscheln sie doch nicht so!” an den Kopf zu werfen.
„Momfmenf fbibbe!”, war alles, was ich seiner Antwort noch entnehmen konnte. Gefolgt von einem leisen „Plop”.
Es war keines jener leisen Plop, die man entweder ignorierte oder gar nicht bewusst wahrnahm. Viel mehr war es ein Plop von der Sorte verstopfter Herzkranzgefäße. Ein Plop, wie es nur durch freigesetzte Nullpunktsenergie entstand. Ein Plop, wie es nur ein Urknall hervorbringen konnte. Sie glauben der war lauter? WAREN SIE ETWA DABEI?!!?
Gefolgt wurde das Plop von einem „Ah! Schon viel besser.” Dem „Ah!” hätte ich mich am liebsten sofort angeschlossen. Es klang sehr befreiend. Stattdessen musste ich mich lautlos von meinem Verstand verabschieden. Denn völlig aus dem Nichts hatte sich eine grünlich schimmernde Kopie meines Patienten manifestiert. Und damit nicht genug. Sie beugte sich auch noch über ihr mehrfarbiges Alter Ego, das mit geschlossenen Augen, aber immer noch geöffnetem Mund weiterhin vor mir lag.
„Ja.”, sagte die grüne Gestalt erleichtert. „Gleich haben sie es geschafft. Es fehlen nur noch wenige Jahre. Sie sind bereits an dem Tag angekommen, als ich meine ersten Schritte unternommen habe.” Und mehr zu sich selbst „Das läuft ja besser, als ich gehofft hatte!”.
Das Grün war im Lauf der letzten paar Sekunden deutlich kräftiger geworden. Wenn sich die Kopie des Mönchs still gehalten hätte, wäre ich versucht gewesen sie für eine Jadeskulptur zu halten. Stattdessen stand sie leicht schaukelnd vor mir und wartete darauf, dass ich ihr meine Aufmerksamkeit schenkte. „Doc?”, hörte ich die Stimme des Jademönchs fragen. „Doc? Nun sagen sie schon etwas. So viel Zeit bleibt mir nicht! Diese Art der Geistprojektion kostet mich jede Menge Kraft. Sie müssen jetzt weiter machen!”
Das nächste „Plop” klang viel vertrauter. So hatte es sich angehört, als ich mir mit 16 zum ersten Mal den Verstand weggekifft hatte und ein weiteres Mal als ich über meine zweite Scheidung vom Wahnsinn geküsst worden war. Verglichen damit war es kinderleicht mir einzugestehen, dass dort neben mir ein Produkt meiner Phantasie auf mich einredete und ihm zu antworten. Einfach so. „Plop!”. Als rational denkender Mensch wollte ich nämlich zumindest eine Erklärung für all dies. Ganz egal ob sie mir weiter half.
„Wieso?”, fragte ich also.
„Das ist entweder eine sehr kluge oder eine äußerst törichte Frage und wenn sie jetzt nicht konkreter werden, kann ich ihnen bedauerlicherweise keine befriedigende, geschweige denn ehrliche Antwort darauf geben.”, meinte das kleine sehr grüne Männlein.
„Plop!”
Ich nahm mir die Zeit genauer darüber nachzudenken.
„Plop”
Objektiv betrachtet musste ich mir eingestehen, dass ich im Begriff war den Verstand zu verlieren. Subjektiv gesehen – und diese Ebene lag mir augenblicklich viel näher – stellte sich mir die Frage, warum ich mich dabei immer noch völlig normal fühlte.
„PLOP!” Diesmal war es merklich lauter. Das Ploppen kam ohne Frage näher. Aber wenn es sich nähern konnte, wie konnte es dann aus mir kommen?
„Wieso zum Teufel ploppt es hier ständig?”, rutschte es mir heraus.
„Heureka!”, platzte es aus der Jadestatue.
Ich schrak aus meinen Gedanken und hätte mich fast auf den Fußboden gesetzt, wäre es meiner Hand möglich gewesen, sich zu befreien.
„Entschuldigung.”, sagte das sprechende Jadedings und hielt mich mit überraschend kräftigen Händen am Unterarm fest. „Das war wohl etwas zu theatralisch. Ich steh einfach auf diesen alten Griechen. Außerdem war ihre Antwort ziemlich nah an einer Erleuchtung.”
„So?”, war alles, was mir als Antwort dazu einfiel. Ich fühlte mich eher be- als erleuchtet, bis ich die Behandlungslampe mit meiner freien Hand zu Seite schwenkte.
„Machen wir ein Geschäft.”, schlug der Jademönch vor. „Sie setzten die Behandlung fort und ich erkläre ihnen, was es mit dem „Plop” auf sich hat. Einverstanden?”
Ganz ehrlich. Was hätten sie an meiner Stelle erwidert, wenn sie mit einer Hand im Mund eines Verrückten festgesteckt wären, während sie dessen projizierter Geist ständig daran erinnerte, wie dünn die Grenze zum Irrsinn tatsächlich war?
Natürlich sagte ich „NEIN!” Ich stampfte auf den Boden, spie Gift und Galle, bewarf die grüne Gestalt mit allem, was in meiner Reichweite war und zerrte an meiner gefangenen Hand. Aber. Es. Half. Nichts.
Müde und kraftlos fügte ich mich in mein Schicksal. „Also gut, flüsterte ich heiser. „Sie haben gewonnen. Ich mache weiter.”
„Danke.”
„Kein Ursache.”
„Doch. Und darum: Danke.”
„Was muss ich tun?”, fragte ich, um die peinliche Stille zu überspielen, die dem Dialog gefolgt war.
„Alles wie gehabt. Wenn sie sich noch ein Mal für 15 Minuten anstrengen haben wir es fast geschafft.”
„Einverstanden. Aber bitte sagen sie mir endlich, was es mit diesem seltsamen Geräusch auf sich hat.”
„Klar, das habe ich ihnen doch versprochen.”
Ich setzte also meine Arbeit fort und er erklärte.
„Eigentlich würden sie dieses Geräusch gar nicht wahrnehmen, wenn ich es nicht für sie katalysieren würde. Die Welt, das Universum und alles darüber hinaus ist voller „Plops”, müssen sie wissen. Jedes Mal, wenn ein Ereignis sich in die Raumzeit entfaltet bildete es eine Art Membran aus, bildlich gesprochen ist es eine Art Ereignishorizont. Mit dem Unterschied, dass es dabei nicht um unendlich große Massen dreht. Vielleicht haben sie sich schon einmal gefragt, was geschehen wäre, wenn sie gewisse Entscheidungen in der Vergangenheit anders getroffen hätten. Diese Vorstellung ist ziemlich falsch. Denn eigentlich haben sie sie getroffen. Alle.
Jede einzelne und auch alle darauf folgenden. Das „Plop” ist der Grund, warum sie davon nichts wissen. Das Universum entfaltet sich nämlich nicht nur linear in Zeit und Raum, sondern verschachtelt sich bei jeder getroffenen Entscheidung in eine unzählbare Vielzahl von Handlungssträngen.
Damit das alles nicht völlig chaotisch ineinander fällt gibt es diese Membranen, ähnlich der Haut, die sich auf Milch bildet, wenn sie kocht. Jetzt wird die Sache tatsächlich etwas kompliziert: Die Mönche meines Ordens haben bereits vor Jahrtausenden entdeckt, wie man der Milch die Haut abschöpft ohne sie zu zerreißen und sie anschließend trocknet und konserviert. Jeder von uns ist sich der wahren Natur des Universums und der Leben darin bewusst.
Ich zum Beispiel bin beinahe 110 Jahre alt, habe aber Erinnerungen an Lebensabschnitte, die ich nie persönlich gelebt hätte. Wenn ich alle Leben addiere an die ich mich erinnere, dann wäre ich 35461 Jahre alt. Wenn man zwischen den verschiedenen Membranen wechselt, geschieht dies ohne Zeitverlust, mein Körper im Hier und Jetzt bleibt davon unbeeinflusst, da ich auf dem selben Weg zurück kehre. So gesehen bin ich nahezu unsterblich. Nur fühle ich mich inzwischen nicht mehr 110jährig, sondern mehr wie 35000. Es wird Zeit für mich.”
„Zeit?”
„Ja. Ich möchte sterben.”
Das wurde ja immer besser! Im selben Augenblick als Meister Wang dies ausgesprochen hatte, berührte ich mit der Zange den Zahn. Ich hatte keine Ahnung, was das alles mit mir zu tun haben sollte. Die seltsamen Umstände in die ich mich verwickelt sah, ließen aber keinerlei Spielraum für andere Annahmen.
„Wir sind da.”, flüsterte Wang aufgeregt. Ein glückliches Lächeln umspielte die Lippen seines jadegrünen Avatars.
„Aber sie sind doch noch rüstig, wenn ich mir ein Urteil erlauben darf. Ich würde sie höchstens auf 65 schätzen. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass sich dies auf absehbare Zeit ändern wird.”, log ich aus Angst, die Kontrolle vollends zu verlieren.
„Danke Doc.”, sagte Wang. „Aber es geht gar nicht darum, wie lange mir noch bleibt, verstehen sie? Wenn ich das wollte, wäre ich auch in weiteren 50 oder 100 Jahren in perfekter körperlicher Verfassung. Nicht mein Körper ist es, der mir das Ende der Existenz diktiert, sondern mein Geist. Ich bin nicht mehr in der Lage dies zu leugnen.
Irgendwo in der Zukunft laufen alle Linien all meiner Leben in einem einzigen Punkt zusammen. Um über diesen Punkt hinaus sehen zu können reichen die Fähigkeiten eines einfachen Menschen nicht aus. Wir sind es zu sehr gewohnt ständig und überall die Zügel zu ergreifen. Selbst wenn wir es gar nicht wollen, selbst wenn wir versuchen uns treiben zu lassen, greifen wir instinktiv in das ein, was wir so gern als Schicksal verklären, was aber tatsächlich niemals vorherbestimmt wäre, wenn wir aufhören würden uns lenkend einzumischen.
Durch die jahrzehntelange Konditionierung und die Meditation in unserem Kloster werden meinen Brüdern und Schwestern diese Automatismen noch viel mehr antrainiert. Wir sind uns auf eine gewisse Weise sogar unseren unbewussten Handlungen bewusst. Aber wenn unsere Ausbildung fast abgeschlossen ist, dürfen wir uns einen Schlüssel für unsere Konditionierung auswählen. Und einen dieser Schlüssel halten sie gerade mit ihrer Zange umklammert.”
„Einen Schlüssel?” Ich halte also gar keinen Zahn, sondern einen verdammten Schlüssel in den Backen dieser verdammten Zange?” Es war mir schon vorher schwer gefallen mich zu beherrschen. Aber nach meinem kleinen Tobsuchtsanfall war ich eigentlich überzeugt gewesen, resigniert genug zu sein, um alles Folgende stoisch über mich ergehen zu lassen. Doch ich hatte meine Lektion gelernt: Wenn es schlimm kommt, dann kommt es auch schlimmer!
Ich hätte gern alles liegen gelassen, wäre weggelaufen und erst an der nächsten Küste hätte ich mir eine Pause erlaubt. Fakt war aber auch, dass ich mich immer noch nicht bewegen konnte. Beziehungsweise nur jene Teile meines Körpers, die nicht im Körper dieses verrückten alten Mannes fest saßen.
„Lassen sie mich endlich los!”, schrie ich zuerst den einen und dann den anderen Wang an. Ich wusste nicht, welche der beiden Versionen von ihm ich in diesem Moment mehr hasste.
„Das kann ich nicht. Sie müssten 110 Jahre warten, ehe ihre Hand wieder frei ist. Es liegt allein in ihrer Hand die Sache zu beschleunigen”, meinte Wang mit ehrlichem Bedauern in der Stimme.
„110 Jahre?!”, entfuhr es mir entsetzt. „Hinein ging es doch auch in 25 Minuten! Wieso jetzt 110 Jahre?” Ich war kurz dabei in Tränen auszubrechen, sah ich mich doch zu meinen Lebzeiten mit der einen Hand im Mund eines toten alten Mannes. Das war alles viel zu viel für mich.
„Nun.”, meinte Wang. „Einerseits ist es eine Art Rückversicherung, damit auch wirklich geschieht, was geschehen muss. Und dann hat es etwas mit dem Wesen der Zeit an sich zu tun. Bei Reisen in die Vergangenheit gibt es ein physikalisch mögliches Ziel, das müsste ihnen klar sein, wenn sie etwas darüber nachdenken.
Wollten sie aber von der Vergangenheit in die Zukunft reisen, selbst wenn es sich dabei um ihre eigene Gegenwart handelt, stoßen sie auf das Problem, dass sich diese Zukunft ja erst einmal manifestieren muss, um als Ziel zu gelten.
Daher muss es zwangsläufig so lange dauern, bis sie tatsächlich im Hier und Jetzt angekommen ist, wenn sie versuchen ihre Hand wieder heraus zu ziehen. Der Weg hin war sozusagen eine Einbahnstraße. Bildlich gesprochen.”
„Bildlich gesprochen…”, brabbelte ich nach.
„Genau.”
„Also ziehe ich ihnen in 110 Jahren ihren Weisheitszahn?”
„Nein. Und das ist das schöne an der Sache! Wenn sie den Zahn entfernen können sie ihre Hand sofort und ohne weiter Umstände wieder bekommen.”
„Also dann! Worauf warte ich denn noch?”, fragte ich mehr zu mir selbst.
„Genau das frage ich mich auch schon.”
Ich packte die Griffe meiner Zange so fest ich konnte und wappnete mich für das Schlimmste. Doch es trat nicht ein. Der Zahn drängte förmlich nach draußen und war entgegen aller weisheitszahnlichen Gepflogenheiten nicht einmal stark verwurzelt. Drei Mal atmete jemand erleichtert auf. Zuerst ich, dann der meditierende Körper vor mir und zuletzt Wangs Jadeebenbild.
„Sehr gute Arbeit, Doktor!”, sagte er und lächelte dabei. „Gleich haben wir es geschafft. Für den nächsten Schritt werden sie kein Werkzeug brauchen. Der Schneidezahn sollte sich ohne Probleme per Hand ziehen lassen. Ich hoffe sie lassen mich jetzt nicht im Stich.”
Der Körper im Behandlungsstuhl wirkte irgendwie verändert. Aber ich schob es auf meine innere Anspannung und die Ereignisse, die über mich hereingestürzt waren. Mit Zeigefinger und Daumen packte ich den abgewetzten Schneidezahn. Seine Riefen fühlten sich sogar noch tiefer an, als ich zunächst vermutet hatte. Er ließ sich tatsächlich ohne Gegenwehr packen, steckte aber fester, als ich erwartet hatte.
„Was passiert, wenn ich diesen Zahn gezogen habe?”, fragte ich, nun doch neugierig wie die Sache zu Ende gehen würde.
„Etwas endet und anderes beginnt.”, erwiderte Wang und fügte hinzu „Aber genau weiß ich es auch nicht.”
„Nun dann.” Ich straffte meinen Körper und versuchte mein inneres Gleichgewicht wieder herzustellen. Vielleicht war Flucht unmöglich, aber sie war immerhin eine Option, die ich weiterhin in Betracht ziehen musste, falls die Ereignisse es erforderten. Dann zog ich. Und im nächsten Moment hielt ich den Schneidezahn zwischen meinen Fingern.
Mein Blick jedoch hing an etwas völlig anderem. Etwas Unmöglichem!
Beide Mönche waren völlig reglos. Der echte Wang ließ seinen Atem aus den Lungen strömen, als hätte er eine endlose Reserve davon. Dann begann sein Körper sich zu verändern. Zuerst wuchs er in die Länge. Tatsächlich richtete sich seine Gestalt aber nur auf. Wirbel, die schon vor langer Zeit ihre Arbeit eingestellt hatten, stützten nun seinen Rücken von neuem und strafften ihn. Die Haut des alten Mannes verlor immer schneller die Zeichen des Alters. Falten glätteten sich, Flecken verschwanden und sein Gesicht wurde von Sekunde zu Sekunde jünger. Es war wie Magie!
Innerhalb weniger Atemzüge saß dort kein alter Mann mehr, sondern ein 30jähriges Abbild Wangs. Doch die Verwandlung hielt noch immer an. Immer schneller verjüngte sich der Körper und letztlich lag ein kleiner Säugling vor mir. Dieser öffnete endlich Augen und Mund. Und dann schrie er, wie ich es bisher nur ein einziges Mal in meinem Leben gehört hatte, nämlich bei der Geburt meines Sohnes. Mit dem Schrei erschien ein gleißendes Licht auf der Stirn des Knaben, welches greller und greller leuchtete und immer heißer brannte. Ich musste mein Gesicht abwenden. Dann war alles vorbei.
Ich war allein und fühlte mich, als hätte jemand meinen Kopf vollkommen geleert und mit unendlichem Staunen aufgefüllt. Zuerst staunte ich über die Luft, die in unablässiger Selbstverständlichkeit über meine Lippen strömte, hinein wie hinaus. Ich staunte über das Licht, dessen abstruses Spektrum mir erlaubte Farben zu erleben, für die es nicht genug Namen gibt. Als ich eine Hand auf meiner Schulter fühlte kam nach und nach ein weiteres Wunder hinzu. Gedanken. Mit jeder Pikosekunde wuchs das Maß der Assoziationen an, wurde zu einer Kakophonie verschiedenster Eindrücke, die zu sortieren ich nicht mehr in der Lage war. Die einfache Klarheit der Dinge wich etwas neuem aber gewohntem: Bewusstsein.
„Alles in Ordnung?”, hörte ich eine Stimme fragen.
„Alles in Ordnung?”, stammelte ich nach, war ich doch mehr damit beschäftigt dem Gefühl von Akustik nachzugehen, statt dem Sinn der Worte.
„Keine Sorge, gleich sind sie wieder der Alte.” meinte die Stimme, die ich inzwischen als Wangs erkannte. Sein jadefarbenes Ebenbild war immer noch da.
Während ich meinen Kopf schüttelte, um die Benommenheit loszuwerden passierte ein „Was ist passiert?” meine Lippen.
„Was passiert ist, fragen Sie? Sie waren großartig, das ist passiert Doktor! Sie haben mir zwei Zähne gezogen, erinnern sie sich wieder?” Seine Stimme hatte sich immer freudiger angehört, als hätte jemand zwischen jede Silbe ein Jubeln und zwischen die Wörter strahlendes Glück gesetzt. Auf diese Weise nahm es dem Gefühl einen Teil seiner Menschlichkeit!
Etwas rutschte aus meiner Hand. Es fühlte sich merkwürdig an, weil ich bis zu diesem Moment gar nicht wusste, dass ich etwas gehalten hatte. Ich bemerkte es erst, als es klackernd zu Boden fiel. Ein Zahn. Natürlich!
Bilder, Worte und Gedanken fluteten durch meinen Kopf, wie das Meer bei einer Springflut. Erinnerungen kamen und löschten das Vergessen aus. Und ich wünschte es mir zurück. Wissen war Wahnsinn.
Der Jademönch blickte mich mit mitfühlenden Augen an. Dann bückte er sich und hob den Zahn vom Boden auf. Er hielt ihn sanft zwischen Daumen und Zeigefinger, mir zugewandt, so dass ich gleichzeitig darauf blicken konnte. Anschließend widmete er seine Aufmerksamkeit kurz mir.
„Reichen sie mir bitte den anderen?” Mit dem Kinn deutete er in Richtung Besteckpult. Ich fasste hinüber, nahm den hässlichen Backenzahn und reichte ihn ihm.
Wang nahm ihn wortlos entgegen und legte beide Zähne in seine Handfläche.
„Eines bleibt noch zu tun, wissen sie?”, sagte er ohne aufzusehen. Seine zweite Hand schloss sich über die erste und aus den Ritzen zwischen seinen Fingern strahlte erneut ein irrsinnig helles Licht. Erst ähnelte es dem Grün des Avatars, doch wurde es von Sekunde zu Sekunde weißer und füllte schnell den gesamten Raum aus, so dass ich mir den Arm vor die Augen legen musste, um nicht geblendet zu werden. Im nächsten Augenblick war alles wieder vorbei.
Als Wang seine Hand hob, lagen dort keine Zähne mehr, sondern zwei kristallene Würfel. Sie waren wohl die schönsten Objekte, die ich jemals gesehen hatte. An dem glitzern in Wangs Augen erkannte ich, dass sie für ihn einen unermesslichen Wert haben mussten.
„Schön, nicht wahr?” Er hatte es in meine Augen gesehen, wie ich in den seinen. Trotzdem bejahte ich flüsternd.
„Sie können sie behalten, wenn ich weg bin. Als Lohn und Dank für Ihr Durchhaltevermögen.”
„Wirklich? Aber die müssen unglaublich wertvoll sein! Die Würfel sehen aus, als wären sie nicht von dieser Welt.”, antwortete ich zögernd.
„Das sind sie auch nicht. Oder nur zum Teil, um genau zu sein. Diese zwei Kristallwürfel sind einzigartig und unbezahlbar. Also sind sie genauer betrachtet vollkommen wertlos. Ich schenke sie Ihnen, gebe Ihnen aber auch den Rat, sie besser nicht zu behalten. Verschenken Sie sie, wenn es ihnen zusagt, oder Verkaufen Sie die Dinger, aber behalten sollten Sie die Würfel nicht.”
„Wieso?” Zugegeben, ich war doch verwundert ein Geschenk zu erhalten, das mit einer so deutlichen Warnung verbunden war.
„Passen sie auf.” Er nahm die Würfel und ließ sie zu Boden fallen. Mit jedem Mal, bei dem sie übereinander purzelten, von einander oder vom Boden abprallten und um ihre eigenen Achsen wirbelten, funkelte das Licht in ihnen und es dauerte ungewöhnlich lang, bis sie endlich zur Ruhe kamen. Fast so, als würde noch mehr auf sie wirken, als die Gravitation.
Ich ließ meinen Blick zwischen Wang und den glitzernden Würfeln hin- und her wandern, wurde aber aus dem was ich sah kein Stück schlauer. Der Geist des alten Mönchs hielt die Augen geschlossen, erweckte aber den Eindruck, als wisse er genau, was um ihn vor sich ging. Dann lagen die Würfel endlich still.
„Dieser Wurf hat mein Schicksal entschieden.” Hörte ich ihn flüstern.
Ein weiteres Mal war in meiner Praxis etwas geschehen, das sich meinem Verständnis entzog und ich fühlte mich plötzlich sehr alt und müde.
„Wovon sprechen Sie denn nun schon wieder?”, fragte ich, sehr darum bemüht die aufkommende Resignation aus meiner Stimme heraus zu halten.
Wang öffnete seine Augen wieder und das erste Mal, seit ich ihn kennengelernt hatte, wirkte er verunsichert. Sein Blick, der mir vorher immer so wissend erschienen war, zeigte nun eine fast kindliche Neugier und gleichzeitig Unsicherheit.
„Ich habe ihnen doch von der Natur unserer Zeitreisen erzählt. Dieses Würfelpaar ist dazu da, einen Ausgleich zu schaffen. Sehen sie, der Mensch als Lebensform ist in einer Beziehung tatsächlich einzigartig. Er ist als einziger auf der Suche nach einem Sinn hinter den Dingen. Auf unsere eigene Weise haben meine Ordensbrüder und ich ein klein wenig geschummelt, um der Antwort auf diese Frage endlich näher zu kommen. Was wir dabei entdeckten, hat uns zuerst ziemlich überrascht, ehe wir endlich verstanden.
Das Universum ist so etwas wie riesiger Organismus. Zu behaupten es hätte Bewusstsein wäre falsch, denn das Vakuum ist nur kalt und leer und die Sonnen sind nur auf unterschiedliche Arten heiß. Aber auf kleinen Inseln, die vom einen wie vom anderen ausreichend geschützt sind, hat das Universum begonnen sich selbst wahrzunehmen. Aus den Eindrücken die es gewann wurde es nicht unbedingt schlauer, aber es hat seine Neugierde nicht verloren. Als Menschen ist es uns zu Eigen, alles in einem Kontext zu erleben, der auf taktile Reize, einer Hand voll Geschmacksrichtungen, wenige tausend Gerüche und elektromagnetischer Strahlung eines eingegrenzten Spektrums beruht.
Das reicht uns aus, ein ganzes Leben damit zu verbringen zu genießen, zu essen und ab und an metaphorische Gedanken zu wälzen. Aber wie wir uns auch drehen und wenden, wir können niemals diesem musterverarbeiteten Sinnesapparat entkommen, der unser Weltbild formt.
Nie werden wir wissen, wie ein Baum sich fühlt, wenn er von der Morgensonne langsam aus der Lethargie der Nacht geweckt wird. Oder welche Farbe und Form 308 Kelvin für eine Sandviper hat, die auf der Jagd des Nachts eine Ratte aufstöbert.
Und das waren jetzt absichtlich nur Beispiele von unserem Heimatplaneten. Können wir auch nur erahnen, was ein Stern durchmacht, der von den Gezeitenkräften eines rotierenden schwarzen Lochs zerrissen wird?
Fühlen wir die enormen und doch unbemerkten subatomaren Kräfte die unsere eigenen Körper lange genug im Zaum halten, dass uns möglich wird uns als solche Wesen zu erkennen?
Die Antwort auf all diese Fragen muss ‚Nein‘ heißen.
Das Konstrukt Mensch ist eine hochflexible Lebensform, mit großer Anpassungsfähigkeit gegenüber klimatischen und sozialen Bedingungen. Es ist das erste bekannte intelligente Leben auf dem Planeten, weiß aber noch nicht, ob es mit diesem Status auf Dauer zufrieden sein soll.
Hätten wir alle die Möglichkeit unsere Leben in Abermillionen Iterationen auf jede noch so unscheinbare Entscheidung und ihre Folgen zu erforschen, würde ich sogar schätzen, dass wir uns schnell an der scheinbaren Redundanz der Ereignisse satt sähen. Denn obwohl das Leben ein aufregendes Abenteuer ist, beruht ein großer Teil davon auf wiederkehrenden Routinen.
Immerhin hat es Grenzen und Grenzen gilt es zu überschreiten, wenn man wirklich neue Erkenntnisse gewinnen möchte. Hier nutzen die Erfahrungen anderer nur als Sprungbrett zu einer nächst höheren Stufe des Wissens.
Der Sprung ist es erst, der neues Wissen schafft.
Dieser Tag heute war mein Sprung. Mein Sprung ins Ungewisse in die Untiefen des Seins. Wir werden uns nicht wiedersehen Doc, Ich bezweifle, dass mir das Konzept der Sinneswahrnehmung in absehbarer Zeit bekannt sein wird.
Leben Sie wohl!”
„PLOPP”
„Es war 18:15 Uhr, als ich wieder wahrnahm, dass ich in meiner Praxis stand, zwei kristallene Würfel in der Hand und dem leisen Gefühl von Hoffnung im Bauch. Der Hoffnung all dies nur geträumt zu haben.
In meinem Kopf herrschte eine Klarheit der Gedanken, die jedes Nachdenken vereitelte. So ähnlich musste man sich fühlen, wenn man zwei Wochen nichts gegessen und mehrere Tage nicht getrunken hatte. Ich sah in mein Selbst so tief hinab, dass ich am Grund sogar die Windeln meiner Kindheit entdecken konnte und das Gefühl, wie sie sich nass an mich schmiegten folgte mir zurück an die Oberfläche meines Ichs.
So ein Zustand ist unmenschlich und schrie nach Medizin. So landete ich also hier in dieser Bar. Schließlich wurde Alkohol doch genau aus diesem Grund so beliebt, nicht wahr?
Das Gute ist, dass es bei all dem was zu vermuten stand wohl doch nur eine Nachwirkung meiner Begegnung mit Meister Wang war. Kein Verstand konnte solch eine Klarheit über längere Zeit unbeschadet verkraften.
Ach ja. Hier, die beiden Würfel schenke ich ihnen.”, der Zahnarzt drückte mir die zwei glasklaren Dinger in die Hand.
„Einen Moment noch Doc!”, sagte ich, da er schon fast aus der Tür war.
„Was haben Sie denn nun gewürfelt, dass ihnen so plötzlich die Farbe im Gesicht abhandenkam?”
„Ach, eigentlich nichts weltbewegendes.”, antwortete er. „Die Würfel zeigten mir ‚Leben‘ und ‚Tod‘”