Aneinander – Vorbei

„Warum haben Sie Ihn denn nicht festgehalten?!”

”Festgehalten. Festgehalten! Ich habe Sie festgehalten, in meinen Armen hielt ich Sie.”

„Hören sie mir überhaupt zu? Hallo? Ich habe ihnen eine Frage gestellt!”

„Ich hielt sie, wie ein kleines Kind. Ihre Augen strahlten noch immer so blau, wie damals, als sie noch jung war, als ihre Augen noch jung waren und nicht so trübe durch den Staub der Welt. So ein reines blau. Mein Großmutter hat sie immer beneidet für ihre Augen.”

„Wissen Sie überhaupt, wo sie sich befinden? Wissen Sie, was passiert ist?!”

„Oh ich weiß, ich sollte nicht trauern. So lange wie ihre Füße über diese Erde wandelten. Sie hat mehr ertragen, als man einem Menschen zumuten kann. Vater starb vor 15 Jahren und mein kleines Schwesterchen überlebte nicht einmal die ersten Monate. Dennoch war Sie stark! Stark genug, um mir das Leben zu schenken, mich groß zu ziehen. Ob Sie Glück empfand? Das kleine Glück vielleicht?”

„Sie können von Glück reden, wenn man Sie nicht ins Gefängnis steckt, ist ihnen das überhaupt klar?!”

„85 und immer noch glücklich. Nein, das Leben funktioniert nicht so. Wenn wir älter werden, werden wir jünger. Wir empfinden unsere Sterblichkeit wieder stärker. So wie beim ersten Mal. Man ist weniger Kind, wenn man erkennt, dass das Leben ein Ende hat. Irgendwo. Und diese Erkenntnis kehrt zu uns zurück, egal wie weit wir von ihr weglaufen”

„Wovon zum Teufel reden Sie denn da? Wissen sie, dass man sie wegen unterlassener Hilfeleistung belangen kann? Ist Ihnen denn nicht klar, was hier soeben vorgefallen ist!?”

„Ich glaube Sie wollte es so. Sie war bereit zu gehen, da bin ich sicher. Ich weiß noch, als der Arzt vorschlug noch eine weitere Therapie zu versuchen, da meinte Sie nur: ‚Reisende soll man nicht halten’.”

„Würden Sie mir nun bitte endlich erklären, warum Sie Ihn nicht festhalten konnten? Der Junge war erst 17 Jahre alt, verdammt! Er hatte noch so vieles vor sich!”

„Heute Morgen wollte ich Sie besuchen fahren. Wie jeden Mittwoch. Aber ihr Zimmer war leer. Untersuchungen, dachte ich. Nicht weiter ungewöhnlich. Aber als ich dann in die Augen der Pflegerin sah. Sie musste nichts sagen. Es stand da, in ihren tränenlosen Augen.”

„Noch mal von vorne: Als sie vorhin über den Bahnsteig gegangen sind, war da dieser Junge auf seinem Skateboard. Es gibt Zeugen, die sagen, sein Board wäre ihm unter den Füßen weggerutscht und er wäre gestürzt. Keiner der Befragten gibt ihnen die Schuld. Aber sie hätten ihn halten können!”

„Aber das habe ich doch schon erklärt, Herr Kommissar.”

„Erklärt? Sie haben bisher nicht eine meiner Fragen beantwortet, Himmel noch eins!”

„Doch natürlich. Ich sagte ihnen doch: Reisende – Reisende soll man nicht halten.”

Schreibe einen Kommentar