Tafelkreidezeit

Ja ist es denn tatsächlich wahr? Endlich wieder eine Geschichte aus meinem Gehirn exportiert!? Ums vorweg zu sagen, eigentlich ist das hier eine Hausaufgabe. Der Literaturstammtisch hat letztes Wochenende mal wieder getagt, wenn auch deutlich unterbesetzt und wir haben uns auf eine kleine Übungsaufgabe geeinigt. Viel Vergnügen also!

Mathestunde bei Herrn Kretschmar. Hätte ich gewusst, was mich erwartet, ich wäre niemals in dieses vermaledeite Gymnasium gegangen. Ich hätte niemals Leistungskurs Mathe belegt. Und ich wäre niemals in der Klasse dieses Leuteschinders gelandet.
Die Unterrichtsstunden begannen bei ihm immer mit der gleichen Trockenheit. Man konnte sie ohne Übertreibung als Trockenzeit bezeichnen! 3 Mal die Woche, von Acht Uhr, bis 10:20 Uhr und von 11:05 Uhr bis kurz vor Eins. Immer pünktlich zur genauen Taschenuhrzeit hörte man sein knarzendes Gehen, dessen Geräuschkulisse sogar dem Estrich auf dem Fußboden den Eindruck vermitteln konnte, in Wahrheit ein sumpfiges Hochmoor zu sein.
Dieser Mann liebte sich selbst und er liebte seinen Unterricht. Dabei war sein Auftreten durchaus differenzierbar! Ein aufmerksamer Beobachter vermochte mehrere Stufen der Trockenheit darin zu unterscheiden. Seine Begrüßung fiel zum Beispiel nur staubtrocken aus. Bei der Korrektur von Hausaufgaben war er betont tönern, von Bierernst also meilenweit entfernt. Knochentrocken wurde er, wenn es darum ging Noten zu bilden.

Sein einziges Hobby war – neben dem Quälen seiner Schüler – die Geologie. Keiner kannte sich so gut mit Steinen aus, wie Michael Kretschmar. Insbesondere die Kreide hatte es ihm angetan. Nicht nur, aber auch, die Tafelkreide. Kein Gestein kannte er besser. In seinem Pult lagen die Kreidestücke nicht einfach wild durcheinander. Er hatte sie nach Alter, Herkunft, Farbe und Verwendungszweck sortiert Es gab rote Kreide, blaue und weiße Kreide. Malkreide aus Genua, Schreibkreide aus Schweden und Wurfkreide aus dem Kongo. Besonders gefürchtet war seine australische Bumerangkreide! Denn niemand konnte ein Stück Kreide derart gezielt als Waffe einsetzen, wie Mike Crocodile Dundee Kretschmar.

Einmal hatte Jim Knopflocher, seines Zeichen größter Pausenclown und Balkenbieger, versucht in Kretschmars Unterricht ein paar Witzchen zu reißen. Das bekam ihm überhaupt nicht gut! Das erste Stück Kreide traf ihn exakt zwischen die Augen auf die Nasenwurzel und löste dort schlagartig starkes Nasenbluten aus. Das zweite Stück landete zielgenau in seinem Mund und lähmte dort die Stimmbänder. Die nächsten zwei Tage erinnerte Jims Stimme mehr an den Wolf der Kreide gefressen hatte. Er vermied es geflissentlich mit anderen Schülern auch nur ein Wort zu wechseln!
Abgesehen von solch seltenen Momenten waren Kretschmars Unterrichtsstunden quälend langweilig. Einige Kollegstufler vom LK Physik vertraten die Auffassung, dass Kretschmar in Wahrheit Temporalphysiker sein müsse und unsere Klasse als Versuchsobjekt für seine Experimente über die Relativität der Zeit missbrauchte. Geflüstert kursierte unter uns Leidtragenden der Begriff der Unterrichtszeitlupe! Manchmal, wenn die Schüler sich unter der Last einer mathematischen Ungleichung quälten und die Zeit bis zum Ende der Stunde sich immer weiter in die Länge zog, dann konnte man ihn lächeln sehen. Und in diesen, seinen glücklichsten Momenten, nahmen seine Mimik und Gestik beinahe prähistorische Züge an. Seine Augen huschten dann hektisch durch die Bankreihen, wie bei einem Raptor auf Beutezug und suchten nach dem kleinsten Anzeichen von Schwäche. Ein leises Ächzen, ein gelangweiltes Gähnen konnten einem dann wahrhaftig das Leben vergällen! Abfragen nannte er das darauf Folgende. Inquisition war definitiv der passendere Ausdruck.
Denn für Kretschmar waren Axiome Gott gegeben und Verstöße ahndete er mit klerikalem Übereifer eines Hohepriesters der Mathematik. Und seine Strafen hatten immer etwas mit Wurzeln ziehen und Brüchen zu tun.
Aber wenn sich die Langeweile ihrem Höhepunkt genähert hatte, begann in der Klasse das Gescharre. Alle wurden von einer ungeheuren Nervosität erfasst, die nur indirekt mit dem nahen Ende der Unterrichtsstunde zu tun hatte. Denn tatsächlich wurde dieses kollektive Gefühl von dem Infraschall der Schulglocke verursacht, deren Schallwellen durch das kretschmarsche Zeitdiskriminierungsfeld dermaßen gedehnt wurden, dass man sie in erst Form unterschwelliger Basstöne in Knochen und Eingeweiden fühlte, ehe die Physik sich ihren Zwängen ergab und dem Gehör erlaubte seine Arbeit aufzunehmen.
Und jedes Mal, wenn man das Klassenzimmer verließ, stand immer die gleiche Frage im Raum. In welches Jahrhundert war man nun schon wieder gesprungen – und – würden die Menschen diesmal mit Autos durch die Luft fliegen

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