Wer will schon ewig leben

„Who wants to live forever?“

Drei Wochen war ich jeden Tag an ihm vorbei gegangen. Der Lack hatte unter dem andauernden Schnee und dem Salz der Straße stark an Glanz verloren, und das Schwarz drang nur noch matt durch die Wasserflecken. Die viel zu hohen Matschberge rings um die Räder zeigten deutlich, dass das Fahrzeug schon seit Beginn des Schneetreibens nicht mehr bewegt worden war. Ein weniger neugieriger Mensch als ich hätte diese Tatsachen wohl zur Kenntnis genommen und hätte sie wieder vergessen, doch mich reizte es herauszufinden, warum ein alter Leichenwagen einfach auf diesem halb legalen Stellplatz hinter dem Bahnhof abgestellt wird. Die wenigen Gegenstände, die auf den vorderen Sitzen und hinter der Frontscheibe zu sehen waren, ließen keinerlei Rückschlüsse auf den Verbleib des Besitzers zu. Dem allgemein schlechten Zustand des Wagens war aber zu entnehmen, dass er wohl nur noch privat benutzt wurde, was auf einen Menschen mit sehr makabrem Humor oder besonderen Vorlieben schließen ließ. Den Blick in den hinteren Teil des Wagens verdeckten mehrere vergilbte weiße Vorhänge. Schließlich erinnerte ich mich meiner Bürgerpflichten und beschloss, die Polizei auf dieses wild parkende Ungetüm aufmerksam zu machen; natürlich in der Hoffnung mehr über den Halter und den Inhalt des Kofferraums zu erfahren. Man versicherte mir, dass sich eine Streife darum kümmern werde, auf Fragen meinerseits, wann dies geschehen sollte, wollte mir der Beamte aber keine Auskunft geben.

Am nächsten Morgen – ich war wieder auf meinem Weg zur Stadt – bemerkte ich schon von weitem, dass etwas vorging. Rund um den parkenden PKW waren mehrere Meter Absperrband aufgespannt, die nervös im kalten Wind flatterten. Passanten standen in gebührendem Abstand zu den Uniformierten, die mit ihren Mienen deutlich ausdrückten, dass es hier etwas zu sehen gab, das selbst für ihre Augen zu viel war. Die Schaulustigen konnten oder wollten dies jedoch nicht bemerken, denn tatsächlich drängten sie sich so nah wie möglich an die Absperrung, immer in der Hoffnung doch noch einen Blick auf die Szene zu erhaschen. Die Anwesenheit mehrerer Beamter in Zivil ließ mich vermuten, dass sich hier ein schwerwiegenderes Verbrechen ereignet hatte. Im Näherkommen erkannte ich in ihren Gesichtern eine Nervosität, die mich überraschte. Weil mich Menschenmengen von Natur aus abschrecken, versuchte ich, einen gesunden Abstand zwischen mir und dem Pulk auf der anderen Straßenseite einzuhalten. In dem ganzen Trubel war es eh nicht möglich mehr zu erfahren; also wandte ich mich an einen der Uniformierten und begann ihn vorsichtig auszuhorchen. Der Mann war sichtlich verwirrt und erschrocken und mit den Gedanken ganz woanders so war es ein Leichtes, genauere Informationen aus ihm herauszulocken. In seinem gedankenverlorenen Zustand erzählte er mir sogar Details, die sicherlich nicht für meine Ohren bestimmt waren.

Seinen Schilderungen zufolge hatte man keine Spuren über den Verbleib des Halters gefunden, der abgedunkelte Kofferraum jedoch hatte einen wirklich bizarren Inhalt! Nachdem der Schlüsseldienst die Klappe geöffnet hatte, waren die Ermittler überrascht, dass tatsächlich ein großer Sarg mit schwarzem Klavierlack eingelagert war.. Da aber der übliche Leichengeruch ausblieb, glaubten sie zunächst, der Sarg sei leer und versuchten ihn herauszuziehen. Aber der dunkle Kasten rührte sich keinen Millimeter. Zuerst machten sie Rost und sonstige technische Defekte dafür verantwortlich, doch als die Feuerwehr den Sarg doch nach draussen gewuchtet hatte, und der Deckel offen war, mussten sogar die hartgesottensten Beobachter den Blick abwenden. Inmitten eines wahren Meers aus winzig kleinen Käfern lag ein blank abgenagtes, perfekt erhaltenes menschliches Skelett. Spätestens hier hatte meine Neugier ein berufliches Niveau erreicht. Mein Instinkt hatte mich wieder einmal zu einer viel versprechenden Story geführt. Ich muss zugeben, dass ich mich manchmal direkt vor mir selbst fürchtete. Ich gab dem Polizisten, den ich gerade ausgehorcht hatte, meinen Presseausweis und bat ihn um die Erlaubnis, einige Fotos für meine Zeitung machen zu dürfen. Dass ich freiberuflich tätig war und diese Story nach ihrem Abschluss nur dem Höchstbietenden zur Verfügung stellen würde, musste der Mann ja nicht wissen. Da der „Tatort“ bereits forensisch untersucht worden war, aber – wie sich später herausstellen sollte – ohne den Hauch von Spuren, hatte ich die einmalige Möglichkeit, einen frischen Tatort zu betrachten, ohne mögliche Beweise zu vernichten. Das Äußere des Wagens hatte ich ja schon mehrmals im Vorübergehen betrachtet, darum widmete ich meine Aufmerksamkeit gleich dem Metallsarg und seinem Inhalt. Auch wenn man mir nicht erlaubte, einen der Käfer zu berühren, weil noch nicht ausgeschlossen war, dass sie giftig waren, gelang es mir doch, einige hochauflösende Bilder von den Tierchen zu schießen, die ich später einigen Experten vorlegen wollte. Dann wandte ich mich dem Leichnam zu und knipste noch einige heimliche Aufnahmen des Skeletts, vor allem des Schädels. Ich hatte zwar noch nicht die blasseste Ahnung, wofür ich diese Fotos verwenden wollte, aber irgendwie erschien es mir wichtig, gerade diese Detailaufnahmen zu machen. Als ich damit fertig war, befragte ich noch einige der Augenzeugen und Polizisten, aber dabei ergab sich nicht mehr, als meine indirekte Befragung sowieso schon zu Tage gefördert hatte. Mit allen Fakten und einer großen Ladung Überlegungen ging ich nach Hause und konnte meinen Kopf nicht mehr frei bekommen. Diese Flut an Eindrücken und Gedanken machte mir zu schaffen, denn ich hatte mir mit der Tatortbegehung tatsächlich etwas zu viel zugemutet. Irgendetwas an der ganzen Szenerie war falsch, ein wichtiges Detail, das mir bisher noch nicht aufgefallen war, fehlte, und mein Unterbewusstsein ließ mir keine Ruhe, stach wie ein giftiger Dorn auf meine Gedankengebäude ein und brachte sie dauernd zum Einstürzen. Beim zehnten Anlauf, alle Informationen in eine Form zu bringen, gab ich auf, holte mir eine Flasche Mineralwasser aus dem Kühlschrank, befeuchtete ein Handtuch und legte mich auf die Couch vor den Fernseher, den Lappen im Genick und hielt die Flasche zur Kühlung an meiner Stirn. Kurz darauf fiel ich in einen unruhigen Schlaf. Als ich wieder erwachte, war mein Genick hart wie Stein, der Waschlappen lag über meinem Gesicht und die Flasche Wasser lag ungeöffnet und lauwarm unter dem Wohnzimmertisch, auf dem ich meine Fotografien ausgebreitet liegen gelassen hatte. Mit Schleiern vor den Augen warf ich einen weiteren Blick auf sie, nur um sie mit einem wütenden Wisch von der Glasplatte zu fegen. Im gleichen Augenblick bereute ich meinen Wutausbruch und begann mühsam und benommen damit alle Blätter wieder aufzusammeln. Dabei stieß ich auf eine Aufnahme, die ich bisher noch nicht näher betrachtet hatte. Irgendwie war beim Fotografieren etwas schief gegeangen, denn entlang der Knochen zogen sich feine Überblendungseffekte, als wäre eine reflektierende Schicht in sie eingelagert. Doch was wäre, wenn es sich gar nicht um eine Fehlbelichtung handelte!? Ich beschloss das Bild noch einmal vergrößert auszudrucken und staunte nicht schlecht über das, was ich dann sah. Unter der starken Vergrößerung erkannte ich, dass sich um die blanken Knochen ein Geflecht aus silberig glänzenden Fäden wand, das mir beim Schießen der Aufnahme gar nicht weiter aufgefallen war. Erst der starke Blitz meiner Digitalkamera hatte es hervortreten lassen. Sofort setzte ich mich an mein Notebook und begann die anderen Dateien ebenfalls mit einem Bildbearbeitungsprogramm zu bearbeiten. Nach weniger als fünf Minuten war mir klar, was ich übersehen hatte: Jeder der Knochen war mit diesen feinen, silbrig glänzenden Fäden überzogen, die ein feinmaschiges Netz um den gesamten Körper des Toten bildeten. In meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken, und einer plötzlichen Eingebung folgend begann ich, die wissenschaftlichen Archive nach einem Hinweis zu durchforsten. In den letzten Jahren hatte es einen Quantensprung in den Bereichen Biotechnologie, Medizin und Nanotechnik gegeben. Auch ich war bereits in den Genuss dieser neuen Technologien gekommen, als ich vor fast zehn Jahren bei einem schweren Verkehrsunfall beide Beine unterhalb der Knie verlor. Nachdem man die Knochen wieder rekonstruiert hatte, wurden tausende kleiner Roboter an die offenen Stellen angesetzt, die dann Stück um Stück mein Fleisch wiederherstellten. Als Bauplan diente ihnendabeidie DNA meiner Zellen, so dass es niemals zu Abstoßungsreaktionen kommen konnte. Ich hatte Glück, dass die BioTech Firmen damals dringend nach PR gierten, denn sonst wäre ich heute noch ein Krüppel. Selbst hätte ich mir dieses Wunder damals nicht erkaufen können. Leider verspielten die Wissenschaftler ihren Ruf mit einigen sehr fragwürdigen Eingriffen in das menschliche Erbgut, und die Technik verschwand in den tiefen Schubladen einiger Patenthalter. Zwischenzeitlich war es geglückt, menschliche DNS auch ohne diese Nanomaschinen zum gezielten Wachsen anzuregen, und bald sprach kein Mensch mehr von ihnen.

Genau hier hatte mich mein Unterbewusstsein genarrt! Selbstverständlich kannte ich dieses silbrige Fadengeflecht: etwas ähnliches hatte mir damals zu meinen neuen Beinen verholfen! Ich hatte damals zwar nicht die Möglichkeit, bei dem Eingriff zuzusehen, aber man hatte mir an einem amputierten Affenfinger vorgeführt, wie die Technik funktionierte.

Da diese Spur mein einziger Anhaltspunkt war beschloss ich mir noch weitere Meinungen einzuholen. Im Internet fand ich nur einige ältere Artikel über diese Behandlungsform, die jedoch nicht tiefer auf die benutzte Technologie eingingen und meine Fragen nur unzureichend beantworteten. Ich musste mehr wissen, um wirklich sicher zu sein. Deshalb begann ich meine alten Behandlungsunterlagen zu durchforsten, auf der Suche nach einer Adresse oder der Telefonnummer meines damaligen Arztes.

Wenn ich mit meiner Theorie richtig lag, dann war die Leiche in dem Sarg vielleicht gar nicht wirklich tot, vielleicht hatte jemand diese vergessene Technologie weiterentwickelt. Dann war die einzig offene Frage : „Warum?!“. Das Verfahren, das man damals an mir angewandt hatte, war gerade mal in der Erprobungsphase und daher ziemlich kostspielig. Hätte man damals mehr Zeit in die Ausreifung gesteckt, hätten die Kosten sicherlich auf ein akzeptables Maß gesenkt werden können. So aber musste jemand viel Zeit und Mühe investiert haben, von dem unglaublichen finanziellen Aufwand gar nicht zu sprechen, um das gesamte Verfahren weiterzuentwickeln und dabei keine Aufmerksamkeit zu erzeugen. Mir war klar, dass ich etwas unternehmen musste. Die Jungs von der Polizei waren sicherlich nicht dumm, aber da ihnen schon genug anderer Kram um die Ohren flog, war eine unbekannte Leiche, egal wie ungewöhnlich sie ausstaffiert war, nur einer von vielen unlösbaren Fällen, der nur ihre Zeit verschwendete. Und was auch immer ich unternehmen wollte, ich musste es sofort tun. Ich klappte das Notebook mit der vergrößerten Bilddatei zu, steckte es eilig in einen Rucksack und schnappte mir noch zwei der besseren Ausdrucke. Auf dem Weg zum Fahrstuhl versuchte ich in Erfahrung zu bringen, wo man den Sarg samt Inhalt hingebracht hatte, dann eilte ich durch die Lobby meines Apartmentblocks nach draußen und rief nach einem Taxi.

Mein Nickerchen hatte deutlich mehr Zeit in Anspruch genommen, als mir bewusst gewesen war, denn mittlerweile war es draußen dunkel geworden und nur noch wenige Fahrzeuge befuhren die Straßen. Zum Glück parkten vor den Ausgängen dieses Wohnkomplexes immer ein oder zwei Taxis, da ihre Fahrer wussten, dass hier auch spät nachts noch Kundschaft wartete. Ich stieg also in das erstbeste Fahrzeug, das sich auf meinen Ruf hin in Bewegung gesetzt hatte, gab dem Chauffeur, einem grobschlächtigen Mittvierziger mein Fahrtziel und versank in den viel zu tiefen Sitzen der Rückbank. Bis zu meiner aAnkunft würden noch mindestens 30 Minuten vergehen. Genug Zeit, um meinen Plan in die Tat umzusetzen. Ein Blick auf meine Uhr zeigte, dass es bereits kurz nach Mitternacht war, als ich von zu Hause losgefahren war. Um diese Uhrzeit war im Gerichtsmedizinischen Institut allenfalls noch eine Gruppe Wachen anzutreffen, die sich um die Nachtruhe der Toten bemühte, doch ich rechnete nicht mit Schwierigkeiten, dafür hatte ich mir im Laufe meiner Karriere zu viele gute Kontakte geschaffen. Es ist wirklich überraschend, zu was man Menschen mit einer Mischung aus Erpressungen und Freundschaftsdiensten bewegen konnte (kann?), ohne tatsächlich Druck auszuüben! Tatsächlich verschaffte mir bereits mein zweites Telefonat die nötige Erlaubnis, während mein erster Anruf mehr meiner persönlichen Absicherung galt.

Der Fahrer hielt auf der der Pathologie gegenüberliegenden Straßenseite. Mattes Licht dämmerte aus den gläsernen Eingangstüren und einigen großen Fenstern. Die wenigen Stufen nahm ich im Schnellschritt. Einer der Wachleute erwartete mich bereits. Als ich oben angekommen war, schloss er mir auf, sein Blick wanderte musternd über meine Gestalt, als wäre ich ein störendes Element in seiner nächtlichen Routine. Wortlos händigte er mir ein kleines Päckchen aus, auf dessen Oberseite nur die Worte „Trink mich!“ geschrieben standen. Vor meinem inneren Auge hoppelte ein großes weißes Kaninchen in einen der Gänge hinein, die sich von der Lobby in alle möglichen Richtungen in das Gebäude wanden. In meiner Hand lag eine kleine Phiole, die ich der Schachtel entnommen hatte. Mit einem Schluck leerte ich das Fläschchen, steckte es in seine Verpackung zurück und legte diese an der Empfangstheke ab. Danach erklärte ich meinem unfreiwilligen Führer, was ich von ihm erwartete, worauf er wortlos die Führung übernahm. Es ging durch den mittleren Korridor hinein in die Tiefen dieses monströsen Bauwerks. Wegen der angegliederten Universität waren alle Gebäude auf diesem Gelände mit ober- und unterirdischen Gängen verbunden, so dass man im schlimmsten Fall gar nicht merkte, wenn man von einem ins andere wechselte, doch in diesem Moment machte ich mir darüber kaum Sorgen. Langsam aber stetig bewegten wir uns weiter in die Eingeweide des Instituts mit ihren Lager- und Aufbewahrungsräumen hinein. Vor einer der letzten metallenen Türen blieb mein Begleiter abrupt stehen und gab mir grunzend zu verstehen, dass ich hier am Ziel war. Außerdem ließ er mich noch wissen, dass eigentlich zwei Medizinstudenten dort drinnen Übungen an den Toten durchführen sollten, weil sie sich für eine wichtige Prüfung noch ein wenig Praxis gönnen wollten, und ich also nicht allein sein würde. Ich erwartete keine überschwängliche Verabschiedung, öffnete die Tür und ging hindurch, ohne den Mann eines weiteren Blickes zu würdigen. Ein kleiner Lautsprecher am anderen Ende des Labors verströmte undefinierbare Musik und hinter mehreren Sichtschirmen erkannte ich die schemenhaften Umrisse zweier Tische. Von den zwei Studenten war jedoch nichts zu hören oder zu sehen. Erst nachdem ich mich davon überzeugt hatte, dass mir keine unmittelbare Gefahr drohte, wagte ich es, meine Wahrnehmung auf den ganzen Raum auszudehnen. An der Wand zu meiner Rechten zog sich eine lange Reihe an silbernen Türen entlang, in denen wohl die Leichen gekühlt wurden. Die Klimaanlage sorgte zwar für angenehme Temperatur, verbreitete jedoch auch einen unangenehmen Geruch nach Desinfektionsmittel und Verwesung. Da die Fakultät großzügig unterkellert war, weitete sich dieser Raum beinahe 40 Meter vor mir aus. Einen Großteil der Fläche nahmen die Kühlfächer und die Arbeitsflächen für Obduktionen ein, den Rest teilten sich einige kleine Büroboxen und Schränke mit Kartons und Aktenordnern. Doch auf einen Schlag riss mich etwas unglaublich Schnelles aus meinen Betrachtungen und presste mich mit voller Wucht gegen die erste Reihe Kühlfächer. Bei der Wucht dieser Attacke verlor ich kurzzeitig die Orientierung, und der Schmerz, der mir in den Rücken und die Brust jagte, ließ grelle Blitze in meinen Augen zucken. Und mein Angreifer gab mir keine Gelegenheit mich zu wehren. Noch bevor ich wieder Herr meiner Sinne wurde, spürte ich einen unglaublichen Schmerz in meinem Bauch. Der Irre hatte seine Hand einige Zentimeter tief in meinen Körper gerammt. Ich rechnete schon nicht mehr damit, die nächsten Sekunden zu überleben, als ich meinem Peiniger endlich ins Gesicht blicken konnte. Sofern man diese Fratze ein Gesicht nennen durfte! Der Schädel war nur zur Hälfte mit Haut bedeckt und auch zu keiner Gefühlsregung fähig. An einigen Stellen traten unter den Muskeln und Hautfetzen noch Teile des Knochens hervor. Doch so gefroren die Mimik meines Gegners auch war, in seinen Augen konnte ich erst Überraschung und dann Angst entdecken! Sein Blick wanderte hektisch zwischen meinem Gesicht und seiner Hand hin und her, die immer noch bis zum Gelenk in meinen Bauch ragte. Irgendetwas schien nicht nach Plan zu laufen. Neugierig folgte ich seinem Blick nach unten und entdeckte die nekrotischen Flecken, die immer schneller über seinen Arm nach oben wanderten. Noch schneller als sein Angriff erfolgt war, zog er sich von mir zurück. Meine Verletzungen ließen mir kaum genug Kraft, mich auf den Beinen zu halten, obwohl sich der Blutverlust überraschenderweise sehr in Grenzen hielt. Vielleicht blutete ich aber auch nur innerlich. Erschöpft rutschte ich an den polierten Metalltüren nach unten und ging stöhnend zu Boden, immer noch ein Auge auf dieses Monster vor mir. Doch von ihm ging keine Gefahr mehr für mich aus. Als die anfängliche Überraschung gewichen war und die Panik von ihm Besitz ergriffen hatte, war er in eine unglaubliche Hektik verfallen. Zuerst hatte er sich den rechten Arm ausgerissen, der nun definitiv nicht mehr lebendig aussah, sondern neben einigen Totenflecken auch schon erste Zerfallserscheinungen aufwies. Aber das (was?) verschaffte ihm nur ein paar zusätzliche Minuten, denn der Verfall hatte bereits auf andere Teile seines Körpers übergegriffen. Er war auf die Knie gesunken und blickte mich unentwegt an, die Erkenntnis des nahen Todes hatte ihm anscheinend eine Entscheidung abgerungen. Ich konnte sehen, wie sich Teile seines Torsos auflösten und sein Gesicht von innen heraus immer mehr Gestalt annahm. In wenigen Sekunden hatte sich sein Kopf vollständig rekonstruiert, und noch ein weiterer Aspekt hatte sich dramatisch verbessert. Aus dem Knurren und Stöhnen, das ich in den Schrecksekunden während seiner Attacke vernommen hatte, war eine menschliche Stimme geworden. Anfänglich vernahm ich nur Schmerzenslaute und Flüche, aber als er sein Ende auf sich zukommen sah, blickte er mich mit seinen zornigen Augen an und stammelte nur zwei Worte: „Was?! Wie?!“.

In meinem geschwächten Zustand rappelte ich mich etwas auf, um ihm besser in sein Gesicht sehen zu können.

„Ich ahnte, was Sie sind, oder besser, was Sie vorhatten zu werden. Meine Beine wurden mit der selben Technologie wiederhergestellt, die Sie dazu missbrauchten, Ihr Leben zu verlängern. Mir war erst spät eingefallen, dass Sie diese Nanobots zwar dazu benutzen konnten, Ihre Zellen länger aktiv zu erhalten, ihre Fähigkeit zur Teilung dadurch aber deutlich geschwächt wurde. Darum haben Sie all diese Menschen („all diese“ hört sich nach Unmengen an, derweil handelt es sich doch „nur“ um die zwei Studenten – oder waren da noch andere?) hier umgebracht und nur deshalb mussten Sie eine gewisse Zeit Ihre menschliche Form aufgeben. Diese Käfer, die man in Ihrem Sarkophag gefunden hatte, waren Konglomerate der Nanoroboter, die es den Maschinen erlaubte, auch ohne dauernde Energieversorgung schadlos in Betrieb zu bleiben. Als Ihr „Leichnam“ dann hier abgeliefert wurde, begingen Sie dieses Massaker an den zwei Studenten. Hätte ich Sie dabei nicht gestört, wäre Ihnen wohl auch nicht in den Sinn gekommen, mich anzugreifen, habe ich Recht?! Nun, bevor Ihnen noch Ihr verdammtes Kiefer aus dem Schädel fällt, werde ich Ihnen noch schnell erklären, was augenscheinlich mit Ihnen passiert. Ihre Nanites (sind das die Nanorobots?)wurden dafür entwickelt, menschliches Gewebe zu rekonstruieren und danach den Organismus, in dem sie tätig waren, wieder zu verlassen. Da das Experiment, an dem ich damals teilnahm, um meine Beine wieder zu bekommen, noch in der Versuchsphase war, hatten sich die Herren Wissenschaftler eine kleine Rücksicherung geschaffen. Sie konnten das Risiko nicht eingehen, dass sich die Nanoroboter doch nicht aus ihrem Wirtskörper entfernen ließen. Darum bauten sie in ihre Kreaturen eine Art Notschalter ein, der garantierte, dass sich ihre Schöpfung nicht plötzlich selbständig machte. Aus diesem Grund verabreichten sie mir nach meiner Genesung eine Flüssigkeit, mit der sich die Bots immobilisieren ließen. Um ihre Funktion ausführen zu können, brauchen diese Biester nämlich Platz, und diese Brühe wirkte auf sie wie Fliegenpapier. Genau genommen verursachte die Substanz, dass ihre molekulare Grundstruktur polarisiert wurde und sie dadurch aneinanderklebten. So, und nun raten Sie mal, was ich zu mir genommen habe, bevor ich hier rein kam!? Wahrscheinlich lebe ich nicht lange genug, um die Genugtuung über Ihr Ende allzulange zu genießen, doch das Privileg, nach Ihnen vor meinen Schöpfer zu treten, reicht mir vollkommen!“

Keine Ahnung, wie viel von meiner Rede er noch mitbekommen hatte, denn kurz bevor ich fertig war, starb das Gewebe in seinen Augen ab. Mir selbst blieb aber auch nicht mehr viel Zeit. Das Loch in meinem Bauch war groß genug um hineinzusehen, und da ich immer noch kaum blutete, wurde mir bewusst, dass meine inneren Verletzungen so enorm waren, dass man meinen Körper nur noch tot finden würde. Ich wäre aber ein verdammt schlechter und nicht minder dämlicher Journalist, wenn ich nicht wenigstens posthum diese Bombe zum Platzen gebracht hätte. Was ich Ihnen bis hierher geschildert habe, ist eine Aufzeichnung meiner Erlebnisse der letzten 36 Stunden. Nicht alles, was aus den Labors der Biochemiker und Nanoforscher kommt ist so teuflisch, wie Sie jetzt vielleicht glauben würden. Sonst könnten Sie diese Zeilen jetzt nicht lesen. Die Hardware/Wetware-Schnittstelle, der Sie diese Aufzeichung zu verdanken haben, kam aus den gleichen Gehirnen wie das Monster, das vor meinen Augen starb.

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