Einflugschneise

„Ruhige WHG, 4 Zimmer, im Nürnberger Norden (Johannis) ggü. Hesperidengärten; 350 Euro inkl. NK, ab April zu vermieten” hieß es damals in dem Inserat. „Traumwohnung” dachte ich. „Schnäppchen” schrieb ich mit Textmarker daneben.

Die Besichtigung ließ mir die Augen überlaufen. 75 m², perfekt gepflegtes Parkett und traumhaft große Fenster! Es war klar, dass ich da nicht mehr nein sagen konnte, die Versuchung war einfach zu groß.  Der Einzug verlief perfekt. Kein Helfer fiel aus, nichts ging zu Bruch und alle Arbeiten waren in Rekordzeit abgeschlossen.

Dann kam die erste Nacht. Es war eine klare Neumondnacht. Der Himmel hatte ein sommerliches Blau übergeworfen und wenn man sich lange genug konzentrierte, tauchten langsam die ersten Sterne aus dem sonst makellosen Blau. Ich lag mit geschlossenen Augen auf meiner Decke und lauschte auf die Geräusche der Umgebung. Die Außenfassade dampfte angenehm duftendes Harz aus, das Dach nahm knarzend den letzten Atemzug aus der Kühle der Nacht.

Und dann hörte ich ein unerwartetes *WUSCH* und ein noch viel unerwarteteres *KLOPF KLOPF* an meiner Balkontüre! Dem *WUSCH* folgte erst eines, dann noch ein weiteres und schließlich ein ganzes Gestürm an *WUSCH*. Natürlich schob ich das Geräusch, auch das Klopfen auf den Wind. Ich stand auf, um die Balkontür und das Fenster zu schließen.

*FLAP* machte es draußen. „Vogel!”, dachte ich drin und zog den Vorhang auf.
„Guten Abend Herr Uhrmann!”, sagte das *WUSCH**FLAP* und im nächsten Moment saß ich am Boden und starrte die Gestalt auf meinem Balkon mit weit aufgerissenen Augen an. „Hast Du dich verletzt?”, fragte das Wesen, das so dermaßen nicht nach Mensch aussah und so unglaublich nach Engel. Es stimmte fast jedes kitschige Detail: Große, blendend weiße Flügel lagen ordentlich gefaltet    auf seinem Rücken. Sein Körper – schlank und filigran – war eindeutig zum Fliegen bestimmt, die Gesichtszüge waren sanft und feminin und standen in einem verwirrenden Widerspruch zu der Aura aus Kraft und Macht, die eindeutig zu groß für mein Schlafzimmer war.

Vielleicht trat er deshalb nicht ein.

Mühsam rappelte ich mich auf, beide Ellbogen auf dem Bett abgestützt und schaffte es gerade so, verneinend und ungläubig den Kopf zu schütteln.
„Das ist gut. Es wäre doch schade, wenn du dich an deinem ersten Arbeitstag schon krank melden müsstest! Und nun komm, es wird Zeit anzufangen. Heute Nacht ist einiges zu tun!”

Das Gefühlschaos in mir beruhigte sich, als hätte jemand meinen Verstand in rosa Watte gepackt. Gefasst stand ich auf und folgte dem Engel nach draußen. Dort konnte ich dann auch endlich sehen, was dieses *WUSCH* wirklich verursachte: Dutzende, ach was sage ich; hunderte von Engeln flogen allesamt von irgendwo hinter dem Haus auf den nahen Friedhof zu und hoben von dort mit etwas kleinem, pulsierend Leuchtenden beladen wieder ab. In den wenigen Minuten, die wir dem Treiben wortlos zusahen, kam es zu zwei Karambolagen zwischen startenden und landenden Engeln, die Zahl der Beinahe-Zusammenstöße konnte ich gar nicht zählen.

Die Engel waren unglaublich schnell, aber es fehlte ihnen ganz offensichtlich an Koordination.

„Du siehst ja was hier los ist, Herr Uhrmann. Das ganze Hin und Her geht uns einfach über den Kopf. Darum brauchen wir deine Hilfe.” Er gab mir etwas in die Hand, das aussah wie ein großes Smartphone. Das Gerät glänzte elegant und lag unglaublich gut in der Hand. Auf der matt-silbernen Rückseite war eine stilisierte Wolke eingraviert, aus der jemand ein Stück herausgebissen hatte. Das Display hätte weitaus mehr Platz gehabt, zeigte jedoch nur ein Symbol, das entfernt an eine Radarschüssel erinnerte.

„Drück ruhig darauf.”, vernahm ich von hinter meinem linken Ohr. Auf ein sanftes Antippen des Icons öffnete sich tatsächlich eine Anwendung in Form eines Radarschirms, auf dem hunderte roter und grüner Punkte hin und her strömten.

„Die Steuerung ist total intuitiv. Du denkst es, wir wissen es. Mit etwas Übung wirst du auf dieses Gerät völlig verzichten können, das ist nur eine kleine Eingewöhnungshilfe.”

„Ähm?!”, machte ich und bemerkte erst dann, dass es das erste gesprochene Wort aus meinem Mund war. Engel monologisierten wohl aus reiner Gewohnheit.

„Ja, das tun wir tatsächlich gern.”, antwortete der Engel. „Und wir lesen auch gern mal eure Gedanken. Irgendeinen Vorteil muss es ja haben Engel zu sein.”

„Ähm!”, sagte ich erneut. „Ihr wollt mich hier also als eine Art Fluglotsen, weil ihr zu … däml… will sagen unkoordiniert seid, ohne Abstürze hier durch die Gegend zu fliegen?”

„Ganz genau!”

„Warum ausgerechnet ich? Und wozu das alles überhaupt? Habt ihr oben im Himmel nicht genug Wolken, auf denen ihr eure Flugschau abhalten könnt?”

„Oh du verkennst die Situation ein wenig. Aber der Reihe nach. Erstens: Wir haben dich nicht ausgewählt, du hast den Vertrag schließlich unterschrieben, freiwillig, wie ich betonen möchte, da legt der Boss großen Wert drauf. Und zweitens ist das hier keine Flugschau, sondern bitterernste Arbeit. Wenn man es genau nimmt, seid ihr Menschen Schuld an den ganzen Durcheinander. Schließlich musstet ihr ja die ganzen Regeln umschmeißen, die ihr euch vor ein paar Hundert Jahren ausgedacht habt. Erst gibt es eine Vorhölle und kaum guckt man einmal nicht hin, schon blast ihr alles wieder ab. Und wer hat dann die ganze Arbeit damit? Gott? HA! Der hat doch seit 65 Millionen Jahren keinen Handgriff mehr selber gemacht, weil ihm die Schöpfung zu kompliziert geworden ist! Falls du es noch nicht weißt: Das mit den Dinosauriern, das war gar kein Meteor!
Darum hat er euch Menschen auch diesen freien Willen gegeben. Damit er sich nicht mehr so arg kümmern muss. Und was macht ihr?! Erst brockt ihr einigen Millionen Seelen die Vorhölle ein und dann macht ihr den ganzen Laden dicht und setzt die Bewohner einfach so auf die Straße.  Das Desaster  auszubaden bleibt dann natürlich an den dummen Engeln hängen.”

Irgendwann zwischen diesem „Gefühlsausbruch” machte es in meinem Kopf zwei Mal *KLICK*.

„Mooooment mal! Ich habe doch gar keinen Vertrag unterschrieben! Und üüüüberhaupt: Ich bin doch aus der Kirche schon vor Monaten ausgetreten. Ich glaube doch gar nicht mehr an DICH oder IHN!”

Und dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen! Der Mietvertrag! Das verdammte kleingedruckte!

„Ganz genau, Herr Uhrmann, der Vertrag. Fang gar nicht erst damit an daran zu glauben, du könntest ihn irgendwie anfechten! DA haben sich schon ganz andere die Zähne dran ausgebissen. Wir machen das garantiert nicht schlechter als unsere direkte Konkurrenz! Also, was ist? Wollen wir anfangen?”

„Ääähm…”

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