Lotophagen

Die CT wollte sie mal wieder nicht, darum gibts jetzt was neues zu lesen. Viel Vergnügen!

Lotophagen

„Meine ersten Gedanken, als ich wieder aufwachte waren nur darauf ausgerichtet, die Ursache für diese unglaublichen Schmerzen zu finden und mit Gewalt abzustellen. Dann rappelte ich mich langsam wieder auf und nahm auf dem Spezialsessel platz, den ich nutzte, wenn ich mich länger im Netz rum trieb. Eigentlich hätte ich nicht aus dem Ding raus fallen dürfen, dazu gab es zu viele Sicherungen. Aber darum kümmerte ich mich in dem Moment nicht. Mein Kopf tat zu sehr weh.

Irgendwo roch es nach verschmorten Schaltkreisen und mir war übel, was ich auf den Gestank und nicht auf eine angehende Gehirnerschütterung schob. Das Ozon aus einem ziemlich heißen Lichtbogen machte mir Sorgen, so einen krassen Kurzschluss sollte meine Hardware eigentlich nicht erfahren. Einiges davon hatte mich einen dicken Batzen Geld gekostet und gewisse andere Teile waren sogar einzigartig. Ein Blick nach hinten zeigte mir das Opfer der elektrischen Überbelastung, es wirkte mehr wie ein modernes Kunstwerk als ein Stück komplizierte Elektronik und es qualmte noch immer kalt vor sich hin. So eine gute Scrumbler-Box würde mich die Hälfte meines Monatseinkommens kosten. Immerhin hatte das Ding seine Funktion bis zuletzt erfüllt, denn sonst hätte ich neben dem Kater auch noch Besuch von ein paar Herren in Uniform gehabt. Mein Job ist nicht immer so legal wie ich es gerne hätte, aber ich bin verdammt gut darin mich nicht erwischen zu lassen.

Dass es draußen dunkel war störte mich nicht weiter, es kam öfter vor, dass ich auf einer Tour die Zeit im RL vergaß, darum machte ich mich erst einmal daran, die Schäden an meinem System zu begutachten. Nach nicht einmal 20 Minuten war klar, dass die Elektrizität ganze Arbeit geleistet hatte. Die Gewalt dieses Defekts machte mich unsicher, ob ich jemals wieder an meine Daten kommen würde, schließlich waren sie fast so sicher wie harte Währung. Vorsichtshalber hatte ich von allen Daten Backups angelegt, unter anderem in meinem persönlichen Datenkern, der in mein Rückenmark implantiert war. Doch der Versuch auf diese Dateien zuzugreifen schlug ebenfalls fehl. Genau genommen erreichte ich nicht einmal mehr die Betriebssystemebene. Statt einem virtuellen Desktop zeigte sich nur ein einsam blinkender Cursor. Ungläubig wankte ich nach nebenan. Dort lagerten ein paar Diagnoseapparate mit denen ich mich selbst untersuchen konnte, aber keiner der kleinen Technikgeister wollte funktionieren, als ich es ihm befahl. Langsam breitete sich ein unangenehmes Gefühl in mir aus. Wenn die Maschinen nicht einmal mehr auf meine kognitiven Befehle reagierten, dann war ich abgeschnitten und zwar von allem, was die menschliche Zivilisation heute ausmachte!

Nur mit Mühe konnte ich die aufkeimende Panik niederkämpfen. Noch hatte ich nicht alle Optionen ausgeschöpft und den Fehler zu beheben würde zwar teuer sein, aber nicht unmöglich. Außerdem ließ sich die ganze Technik auch per Hand bedienen, es hatte nur schon lange niemand mehr gemacht. Zuerst musste ich sicherstellen, dass ich genug zu Essen und Trinken fand. Ich nahm etwas Geld und ging nach unten, um auf der Mainstreet ein paar Einkäufe zu erledigen, einer der fahrenden Händler würde mir sicher geben was ich brauchte, ohne sich über meinen derzeitigen Zustand Gedanken zu machen. Zu Beginn ihrer Geschichte war die Mainstreet tatsächlich einmal eine Hauptstraße gewesen, heute war das löchrige Asphaltband nicht viel mehr als eine sehr skurrile Fußgängerzone und bot den Menschen, die sich auf ihr tummelten, allerlei Buntes und Halblegales an. Dabei präsentierte sie sich so schrill und stellenweise obszön freizügig wie eine Hippiekommune. Ihre Narben versteckte sie hinter vielfarbigem Glitter und bunten Lichtern, die ihr Alter gerade genug kaschierten, um keine weiteren Fragen aufzuwerfen. Unter der glitzernden Oberfläche aber verfaulte die Mainstreet und es gab niemanden, der diesem Verfall noch Einhalt gebieten konnte oder wollte.

Als ich jedoch auf die Straße hinaus trat war alles wie ausgestorben. Kein Mensch war zu sehen, aber überall standen Fahrzeuge auf der Fahrbahn herum. Manche fuhren sogar noch vor und zurück, als wären sie dem Willen eines wirren Geistes unterworfen. Was zum Teufel war hier geschehen? Mein Vorhaben, Essen zu besorgen war vergessen. In Gedanken versunken machte ich mich wieder auf den Weg in meine Wohnung, immer in der Hoffnung, dass sich doch noch ein menschliches Wesen zeigen würde. Doch es blieb dabei, nichts regte sich. Oben angekommen überlegte ich, welche Alternativen mir noch blieben. Wenn ich mich bei meinem Nahrungs- und Wasserverbrauch stark einschränkte konnte ich noch einige Tage oder Wochen ausharren, aber über kurz oder lang musste ich hier weg, so viel war mir klar. Zuerst wollte ich aber klären, was mit meinen Implantaten passiert war. Mit all den Kabeln und Tasten zu arbeiten war nach all den Jahren, in denen ich nicht mehr auf diese Hilfsmittel zurückgreifen musste eine vollkommen neue Erfahrung. Doch am Ende des ersten Tages war es mir gelungen zumindest von den wichtigsten Systemen Fehlerprotokolle abzurufen.

Wie vermutet war meine Kommunikationseinheit, ein kleiner organischer Funkadapter, außer Betrieb. Das Teil war mit Hilfe geschickter Manipulationen meiner DNA hergestellt worden und würde sich mit herkömmlichen Methoden nicht mehr reparieren lassen. Aber auch um den Rest des Equipments stand es nicht sonderlich gut. Mein schlechtes Gefühl in dieser Sache hatte sich voll bewahrheitet. Ich fühlte mich vom Rest der Menschheit abgeschnitten, so als gehörte ich nur noch zu einem kleinen Teil zur Spezies Mensch. Wäre da nicht diese seltsame Stille vor meinem Fenster, die mich dauernd daran erinnerte, dass nicht nur mir Schlimmes widerfahren war, hätte sich dieses Problem in wenigen Tagen lösen lassen, aber so? Es stand zu befürchten, dass mein Zustand noch sehr lange Zeit anhalten würde.

Alleine würde ich diese Angelegenheit nicht lösen oder verstehen können. Ich brauchte Mediziner und ich brauchte ein paar Antworten, dazu gab es keine Alternativen. Ich weiß nicht, ob ich es Glück nennen sollte, dass ich immer einen gepackten Rucksack für ein Wochenende im Freien bereit hielt, in diesem Moment war ich jedenfalls sehr froh über diesen Umstand.

Vor meinem Aufbruch bastelte ich mir noch eine Art Blackbox. Mochten die Daten bis zu meinem Blackout für immer verloren sein, so sollten wenigstens alle Ereignisse danach bewahrt bleiben. Es war nicht ganz unkompliziert, den mobilen Datenspeicher mit den Überresten meines Systems zu verbinden, aber zu guter letzt gelang es mir, eine stabile Audio- und Videoverbindung herzustellen. Am nächsten Morgen packte ich meine Sachen und machte mich daran, die Stadt zu verlassen. Die Mainstreet war noch gespenstischer als beim letzten Mal. Keiner der Automaten bewegte sich noch, wahrscheinlich hatten sie ihre Akkumulatoren über Nacht endgültig entleert. Damit bestätigten sich meine Befürchtungen, dass auch in ihrer Programmierung etwas verdreht war, denn eigentlich waren die Maschinen autonom genug, um sich selbst wieder zu laden ohne auf den Befehl ihres Besitzers zu warten.

Papierfetzen begleiteten mich einen Teil des Weges, vom Wind vorangetrieben sorgten sie dafür, dass ich mich noch einsamer fühlte als es schon der Fall war. Während der nächsten Stunden lief ich quer zur Windrichtung, weil mir dieser Anblick die Lungen zuschnürte. Diese Stadt, die ich noch vor wenigen Stunden als meine Heimat angesehen hatte, wirkte nun auf so einschüchternde Art fremd, dass ich meine Schritte beschleunigte, um schneller an ihren Rand zu kommen. Wie sehr ich meine Eile noch bereuen würde war mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar.

Mein erster Kontakt zu menschlichen Wesen folgte etwa 5 Kilometer außerhalb der Stadt. In einer kleinen Kuhle standen zwei alte Männer, fast zur Gänze nackt Nur ein dünnes Stück Stoff bedeckte ihre Hüften. Als ich näher kam konnte ich hören, wie sie miteinander diskutierten.

„Nein, mein Herr, sie können nicht die Wüste Gobi dafür verantwortlichen, dass in ihr kein Gras wächst und genauso wenig meinem Kopf die Schuld zuweisen, dass kein Haar mehr auf ihm wächst.“

„Ich kann, mein Herr, ich kann! Denn ganz im Gegensatz zu besagter Wüste trägt ihr Kopf mit seinen abstrusen Ideen enorm dazu bei, jedes Haar zu spalten, das ihm in den Weg kommt! Daher ist ganz selbstverständlich, dass über kurz oder lang jedes Haar, das auf ihm wuchert das Zeitliche segnet. Quod erat demonstrandum!“

„Da widerspreche ich ihnen aufs aller Schärfste! Die Vielheit des gespeicherten Siliziums in der Wüste Gobi würde ausreichen, um damit den größten Computer des gesamten Planeten zu bauen, ergo kann man auch der Gobi eine theoretisch ermittel- sowie erfahrbare Intelligenz zurechnen. Und wie sie auf diesem Foto sehen, wächst in dieser Sanddüne ganz eindeutig trockenes Gras.“

„Da kann ja jeder kommen. Wer beweist mir denn, dass dieses Bild tatsächlich die Wüste Gobi abbildet!?“

„Ich darf doch wohl bitten! Mein Leumund sollte ihnen als Garantie ja wohl reichen!“

„Pah! Leumund…“

Dieser Dialog vollzog sich von dem Augenblick an, als ich in Hörweite kam. Die zwei Glatzköpfe erweckten den Eindruck, als hätten sie nur auf Publikum gewartet und nachdem ihre Diskussion in wüsten Beschimpfungen geendet hatte packten sie sich gegenseitig in echter Ringertradition, als versuchten sie ihre fehlenden Argumente nun mehr durch reine Körperkraft auszugleichen. Erst nachdem beide vollkommen erschöpft voneinander abgelassen hatten konnte ich mich von dem Anblick losreißen. Ich wandte mich dem Linken von Beiden zu, um endlich zu erfahren, was der Stadt passiert war, doch statt einer Antwort erntete ich nur beleidigte Blicke. In seinem Wahn gelang es dem Mann tatsächlich, mir ein schlechtes Gewissen einzuimpfen. Im Rückblick betrachtet muss ich zugeben, dass ich mich fühlte wie der Soldat, der Aristoteles Kreise störte. Resigniert zog ich mich zurück, denn eines war klar: Antworten würde ich hier keine erhalten.

Mein Weg führte mich um die Kuhle herum auf eine nahe Anhöhe, von der aus man in ein weitläufiges, der Stadt vorgelagertes Tal blicken konnte. Dort pflanzten die Bauern alle benötigten Nahrungsmittel an, um der Stadt eine gewisse Unabhängigkeit zu sichern. Außerdem gab es dort einen künstlichen Badesee, der den Bewohnern der Stadt als Naherholungsgebiet diente. Doch von all dem war nichts mehr zu sehen, als ich nun von oben darauf blickte. Stattdessen tat sich vor mir einer der untersten Kreise der Hölle auf. Die Felder, die sich normalerweise über mehrere Kilometer in Richtung Horizont ausdehnten, waren verwüstet oder verbrannt und der See hatte sich in einen hässlichen Trog aus Schlamm verwandelt. Die Verheerungen an sich hätten mich nicht so geschockt, aber die unzähligen Leiber, die sich darin wanden, ließen mich auf die Knie sinken. Erst jetzt konnte ich das Chaos auch hören und schmecken. Das volle Ausmaß dessen, was dort unten vor sich ging zog mich auf perverse Art in seinen Bann. Erst viele Stunden später wurde mir wieder bewusst, wo ich mich befand. Immer noch drang ein vielstimmiges Murmeln und Stöhnen durch den Gestank von menschlichen Ausscheidungen, nur die Nacht lag gnädig über der Szene und ersparte mir den Anblick. Wie konnte das passieren?! Was war mit all den Menschen geschehen?

Von hier oben konnte ich nichts weiter in Erfahrung bringen, darum beschloss ich, mich nach unten zu begeben, in der Hoffnung mehr herauszufinden. Doch vor Sonnenaufgang konnte ich es nicht wagen mich in diese Horde zu begeben, daher schlief ich noch ein paar Stunden. Bei Tagesanbruch versteckte ich mein Gepäck, weil ich nicht riskieren wollte auch nur ein Teil davon zu verlieren und weil ich ohne zusätzliches Gewicht schneller fliehen konnte. Bei Sonnenaufgang lag die Ebene noch düsterer da wie zuvor und auch die Sonne hatte sich hinter einen dunklen Wolkenvorhang zurückgezogen. Zuerst wollte ich meine Expedition in dieses danteische Chaos auf einen besseren Tag verschieben, aber ich wagte es nicht, mehr Zeit zu verschwenden, denn meine Ressourcen würden nicht ewig halten. Daher bewaffnete ich mich mit einem großen Stock, den ich von einem Baum abbrach, versteckte meinen Rucksack und machte mich auf den Weg. In weniger als einer halben Stunde erreichte ich die Talsohle und nach ein paar Minuten stand ich an den Ausläufern dieser unglaublichen Menschenmasse. Eigentlich hatte ich erwartet, von dem Durcheinander mitgerissen und verschlungen zu werden, doch keine meiner Befürchtungen wurde wahr. Ohne die Distanz vom Vortag ähnelten sie nicht mehr dem grausigen Höllenbild, sondern hatten viel mehr Ähnlichkeit mit den beiden Alten. Ihnen allen war gemeinsam, dass sie augenscheinlich keine Ahnung hatten, wo sie sich befanden und dass niemand von ihnen mehr bei Verstand war. Ich traute mich nicht in die Menge hinein, aber ich wanderte mehrere Stunden in beide Richtungen. Dabei wurde ich Zeuge der verrücktesten Monologe, Reden, Dialoge, Streitgespräche und Massenkundgebungen. Ich traf auf Napoleon wie auf Julius Cäsar, sprach mit Jesus von Nazareth und Buddha, aber niemand schien noch Sinn oder Verständnis für seine tatsächliche Situation zu haben. Auch die Auswirkungen dieses Massenwahns blieben mir nicht erspart. Auf meiner Suche nach Erklärung fand ich auch den Tod. Er war in diesem Durcheinander genauso präsent wie der Wahnsinn. Fast glaubte ich, die Reiter der Apokalypse am Horizont vorbeiziehen zu sehen. Keiner der Toten hatte Spuren von Gewalt, vielmehr deuteten ihre Leiber auf Unterernährung und Durst. In wenigen Tagen, vielleicht schon in einigen Stunden würde der Spuk hier ein schreckliches, aber stilles Ende finden. Mir blieb nur die Option wieder zurückzukehren, um dem tausendfachen Sterben hier nicht als Zeuge beizuwohnen. Ich konnte es nicht verhindern, aber vielleicht fand ich wenigstens noch eine Erklärung. Bemüht, die toten Körper sorgfältig zu untersuchen war es mir dennoch unmöglich irgendwelche organischen Ursachen für diesen Massenwahn zu finden. Das einzige, worin sich die Toten glichen waren die massiven Anzeichen von Austrocknung. Zwei von ihnen hatten sich, vermutlich wegen des Wassermangels, in Krämpfen gewunden, ehe der Tod sie von ihren Schmerzen erlöste. Dummerweise waren meine Kenntnisse der Medizin nur rudimentär, doch eine Sache fiel mir dennoch ins Auge! Dort, wo bei allen dreien der neuronale Zugang gelegt worden war breitete sich auf etwa einer Handbreit eine exakt begrenzte Brandwunde aus. Irgendetwas hatte das Gewebe über dem Datenknoten überhitzt.

Ich entschloss mich zu einem gefährlichen Versuch und koppelte meine Blackbox an einen der Toten an. Ich war mehr als überrascht, als tatsächlich eine Verbindung zustande kam. Natürlich konnte ich nicht riskieren ohne Schutzmaßnahmen die übertragenen Informationen einzusehen, denn wenn ich Recht hatte, hielt ich die Antwort auf all meine Fragen in diesem Augenblick in meinen Händen und ich wollte sie nicht auf die gleiche Art erfahren, wie der Rest der Stadtbewohner. Entschlossen meine Überlegungen zu beweisen machte ich mich auf den Weg zurück zur Stadt. An einem der großen Einkaufszentren machte ich kurz halt, um mich mit genug Vorräten für die nächsten Wochen einzudecken, dann ging ich nach Hause, suchte die nötigen Teile aus den Überresten meines Hardware-Arsenals und begab mich in die städtische Klinik. Für mein Vorhaben benötigte ich eine bessere Ausrüstung und eine sichere Energieversorgung. Wo, wenn nicht in einem Krankenhaus konnte ich so etwas finden?!

Wie nicht anders erwartet fand ich das Gebäude verlassen. Niemand, der noch gehen hätte können, war noch hier und von jenen, die an ihr Bett gebunden waren fand ich auch keine Spur. Die Notenstromversorgung des Komplexes war stark genug, um die wichtigsten Teile der Klinik über Wochen mit Energie zu versorgen. Den ganzen restlichen Tag verbrachte ich damit, einen Weg zu finden ohne Risiko auf die Blackbox zugreifen zu können. Erst am Abend fand ich endlich eine Möglichkeit, den Zugriff so weit zu filtern, dass ich mich gefahrlos einloggen konnte. Was ich sah waren einige Millionen Zeilen Code. Statt die Befehle direkt in mein zentrales Nervensystem leiten zu lassen hatte ich die Maschine dazu benutzt, sie in lesbare Programmsprache zu übersetzen. Endlich konnte ich wieder etwas ausrichten, dieses Problem war genau auf mich zugeschnitten. Es dauerte aber dennoch viele Stunden, genau genommen bis zum nächsten Morgen, ehe ich ein paar Hinweise auf die Funktionsweise des Programms auf dem Datenspeicher zusammen hatte. Ich dachte ich wäre dem Horror endlich entronnen, aber was ich gefunden hatte erschrak mich derart, dass ich glaubte Eissplitter in meinen Adern zu spüren. Wie konnte ich das nur übersehen!? All die Menschen, die ich gesehen hatte waren alt. Wo waren all die Kinder?

Ich fand die Antwort erst Wochen später. Auf der Suche nach Überlebenden wagte ich mich zuerst in die Kinderabteilung der Klinik. Leider kam ich zu spät, die Säuglinge, die ich dort fand waren alle friedlich im Schlaf gestorben. Kinder oder Teenager fand ich keine. Dieser Ort machte mir Angst und die Tatsache, dass diese Angelegenheit immer noch mehr Rätsel aufwarf tat ihr übriges, um mir eine Gänsehaut über den Rücken zu jagen. Noch schlimmer war aber, dass ich allein war. In all der Zeit, die ich damit zubrachte wie Robinson die Stadt neu zu erkunden, fand ich niemals ein Zeichen davon, dass noch jemand anderes in ihr lebte. Das Gefühl, beobachtet zu werden, dem ich mich nach geraumer Zeit nicht mehr erwehren konnte tat ich als angehende Schizophrenie ab. Ein halbes Jahr später gingen Wasser und Lebensmittel zur Neige. Ich wusste, dass mein Tod nur noch eine Frage von Tagen war. Daher suchte ich mir das robusteste und älteste Stück Technik aus meinem Bestand und zeichnete diese Nachricht hier auf. Eine einfache Bild- und Tonübertragung, ohne große Umwege über das Rückenmark, weil irgendwie unwahrscheinlich schien, dass diese Technik noch jemals Verwendung finden würde. Ach, beinahe hätte ich es vergessen. Warum waren keine Kinder in der Stadt? Warum war keines in der Talsenke? Wohin sind sie gegangen? Ich habe es herausgefunden! Der Virus, ich taufte ihn auf den Namen Lotos, frei nach der Odyssee, wurde tatsächlich von einem Kind geschrieben, ich fand seinen Namen im Code! Es war etwas mehr als ein ausgefallenes Schulprojekt und hätte nie ins Netz gehen sollen. Denn Kinder haben noch keinen neuronalen Zugang, der Datenknoten kann erst nach Beendigung der Pubertät wachsen! Johannes Mauer, Futuretown 2132.“

„Was ist das, Marco?!“

„Hey, lass das liegen, das ist irgendwas von den Alten! Ist ein Wunder, dass es überhaupt noch geht, so verrottet wie dieser Körper hier aussieht.“

„Aber ich finds lustig! Darf ich es mitnehmen? Was steht da? Apfel? Was ist ein Apfel?“

„Lass es liegen, da sind böse Geister drin! Hast du nicht gehört, was die Stimme gesagt hat? Tod und Wahnsinn! Wer weiß, vielleicht ist es verflucht. Außerdem sollen wir Essen suchen!“

„Ich glaube nicht an Geister!” sagte das kleine Mädchen mutig und hob trotzig das Kinn. Aber dann ließ sie das kleine, elfenbeinweiße Quadrat mit dem matten Schirm langsam zu Boden sinken. Die Warnungen ihres großen Bruders konnte sie doch nicht so einfach überhören. Sie traten beide durch die Lücke im Mauerwerk und ließen das Artefakt mit der Stimme im Inneren im Staub zurück. Wären sie 30 Jahre früher gekommen hätte ihnen das Display vielleicht noch ein Bild gezeigt. Jetzt war der Mond, der durch die Nacht brach und die Silhouette zweier dünner Kinderkörper in den Staub der Geschichte schnitt das einzige, was es zu sehen gab.

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