Der Geologe

Oder: Wie ich mich in die Eiskönigin verliebte

Wo begann das alles?! Gerne würde ich Ihnen ein romantisches Bild skizzieren; Ich, geboren zwischen Stalagmiten und Stalagtiten, kalkmilchgesäugt. Doch so banal kitschig war mein Lebensmorgen nicht.

Mein erster Kontakt zum Gestein, damals nannte ich es noch unwissend Dreck, fand wie bei vielen Jungen auf dem Schulhof statt. Dort machten es sich die Oberklässler jedes Jahrgangs zur ureigensten Aufgabe, den Schülern der ersten Klasse die Rangordnung in der großen Pause beizubringen. Wie so oft in der Geschichte der Menschheit nutzen sie dabei das Mittel des Exempels, um der übrigen Mannschaft Neueingeschulter das Wort Metapher zu ersparen. Exempel kannten wir alle, der Krieg war schließlich erst ein paar Monate vorüber.

Körperlich in früher Kindheit eher schwächlich statuiert, prädestinierte mich der Mangel an Körperkraft als Opfer jedweden Zweckes. Bis zum Alter von 14 Jahren war es bevorzugt ich, der Prügel kassierte oder den Schmutz aus den Regenpfützen rund um das Schulhaus soff. War dies der Ausbildung eines gesunden Selbstbildes eher abträglich, so hatte es dennoch eine überaus positive Wirkung auf mein Immunsystem. Das rege Tauchen im kalten Wasser und die Hyposensibilisierung gegen allerlei Getier ließen mich zu einem ungewöhnlich gesunden jungen Mann heranwachsen. So um das Jahr 1949 herum rollte das Tuberkel durch unsere kleine Stadt, so wie es der Ami und vor ihm der Russe getan hatte. Viele an unserer Schule fielen ihm zum Opfer und jene, die überlebten, litten ihr übriges Leben unter den Folgen. Im Rückblick kann ich nicht anders, als eben diesen unfreiwilligen Kneippkuren aus meiner Kindheit eine heilende Wirkung zuzuschreiben.

Als Anekdote dieser frühen Nachkriegszeit möchte ich noch bemerken, dass der letzte Hitlerjunge, der sich immer noch als Arier sah, ebenfalls dahingerafft wurde. So viel zur damals proklamierten Überlegenheit dieser ach so überforderten Rasse. Was musste sie nicht alles auf sich vereinen.

Doch ich schweife ab!

Es war also in einer der Strafaktionen, bei denen ich wieder einmal als williges Opferlamm fungierte. Karl-Heinz, der Rädelsführer, hatte mich mit drei seiner Schergen in die Ecke gedrängt. In jenen Momenten, wenn er sich sicher fühlte von keinem der Lehrer beobachtet zu werden, zückte er den Dolch, auf den er und sein Vater noch immer so unbändig stolz waren. Nicht, dass er je gewagt hätte, jemanden damit zu ritzen. Er nutzte nur die Macht aus, die der blitzende Stahl und die Geschichte des Objekts ihm verliehen.

Einer der glorreichen Drei hatte mir ein Bein gestellt, so dass ich auf allen Vieren von ihnen fort kroch, bis ich mit dem Rücken an der Mauer des Schulhofs entlang schrammte. Karl-Heinz und die Seinen lachten fies über meine nutzlosen Fluchtbemühungen. Als er sicher war, dass keiner der Lehrer ihm in die Quere kommen würde, zückte er die ehrfurchtgebietende Waffe. Tatsächlich schien der Hitlerjunge mit dem Hitlerdolch es diesmal darauf ankommen zu lassen. Ich konnte die Blutlust in seinen Augen sehen. Er wollte ein Mal auf meiner Haut hinterlassen. Panisch suchte ich nach einem Ausweg. Jedes Körperteil wollte in eine andere Richtung entfliehen. Meine Beine versuchten weg zu laufen, mein Kopf floh in eine sinnlose Rettungsphantasie nach der anderen und meine Hände… ja. Meine Hände.

Während sich meine rechte damit begnügte, Dreck und Humus aus dem Boden zu rupfen, schloss sich meine linke Hand um etwas Schmales und Feuchtes. Als Karl-Heinz nah genug kam, um mir seinen Atem und ein paar geflüsterte Beleidigungen ins Ohr zu hauchen, zuckte mein Linke nach vorn und in sein Gesicht. Nur einen Atemzug später stürmte Karl-Heinz davon, eine Hand an seine Wange haltend. Und auch seine Schergen waren sehr blass im Gesicht. Blut sickerte aus den Ritzen von Karl-Heinz Hand. Blut tropfte von dem schwarz-schimmernden Etwas in meiner Hand. Die Meute nahm mit eingekniffenen Schwänzen Reißaus.

Schiefer. Wunderbar schwarzer, scharfkantiger Schiefer.

Etwas Glitzerndes auf dem Boden zog meinen Blick an sich. Dort lag der Dolch, mit dem mir die Hunde gerade eben noch ans Leder wollten. Immer noch vor Aufregung zitternd, beugte ich mich nach vorn und ergriff das unselige Stück Metall. Seiner polierten Oberfläche sah man nicht an, wie viele Scharten es schon in die Seelen Unschuldiger gewetzt hatte. Keine Frage, Karl-Heinz würde sein Eigentum irgendwann zurückfordern. Wahrscheinlich weit nachdrücklicher, als die Übungsrunden im Schikanieren hier auf dem Schulhof. Kurzentschlossen stieß ich die Klinge in einen schmalen Riss in der Steinmauer, so tief, dass nur noch der Griff daraus hervor ragte. Dann trat ich einen Schritt zurück und mit Schwung gegen die Waffe, deren Schneide in zwei Hälften brach. Das scharfe Ende ließ ich in der Mauer stecken und nahm nur den Griff an mich. Während all dem hatte ich das Stück Schiefer kein einziges Mal aus der Hand gelegt.

An vieles danach erinnere ich mich kaum noch, aber dieser Moment war fast so etwas wie eine zweite Geburt für mich. Ich löste mich aus den schlammigen Hosen, dem staubigen Hemd, dem vierzehnjährigen Knaben, ließ diese nun nutzlosen Hüllen zurück, als wären sie ein Kokon und ich ein Ding mit Flügeln. Einen schwarz-grauen Stein in Händen haltend, mit dem ich mich aus all dem befreit hatte.

So wirklich bewusst wird mir all dies erst jetzt, da diese Geschichte aus meiner Feder tropft und meine Gedanken zwingt sich meiner Vergangenheit zuzuwenden. Ich lernte schnell. Begabt war ich, wenn auch im weniger üblichen Sinne. Meine eigentliche Motivation war ein Fluchtreflex, den meine Lehrer als Neugier auslegten. Problemkinder sind nicht immer auffällig. Solange ich aber lernte, was man mir beibringen wollte, ließen sie mich in Ruhe.

In all den Jahren stellte ich eines mit immer sicherer Gewissheit fest: Menschen ähneln Steinen!  Der Vergleich mit etwas so unbelebtem mochte in anderen Ohren blasphemisch klingen, aber war deshalb nicht weniger wahr.
Manche Menschen waren hart und unnachgiebig wie Granit, andere leuchteten der Menschheit in die Zukunft, wie feinster Marmor. Menschen wie ich glichen am ehesten dem Schiefer. Ihre Schichten waren ungezählt, sie wirkten brüchig und man konnte nie sagen, welche ihrer Schichten fest war und welche nur lose aufeinander lagen. Ihre Vielschichtigkeit bot aber immer Grund zur Neugier. Überraschung und Schrecken gaben sich in uns die Hand.

All diese eher philosophischen Betrachtungen ließen mich doch ein Studium der Geologie absolvieren. Ich hoffte, dass ein Studium meiner Natur mir mein eigenes Rätsel entschlüsseln würde. Doch man kann den Ursprung einer Sache kennen, ohne ihr deshalb auf die Spur zu kommen. Die Betrachtung eines Spiegelbildes erlaubt genauso wenig einen Blick hinter den Spiegel, wie sie ein tatsächliches Abbild des Objekts davor darstellt.
Von dem schmutzigen Burschen der ich damals war, ist heute nicht mehr viel übrig. Ich trieb Sport, weniger aus athletischen Gründen, sondern vielmehr der Notwendigkeit geschuldet, das Geologie draußen stattfand. Mit 23 Jahren hatte ich bereits den Ruf eines erfahrenen Bergsteigers, Höhlenforschers und Tauchers. Sie wundern sich über letzteres, das sehe ich ihrem irritierten Blick ganz deutlich an. Doch genau betrachtet ist das gar kein Widerspruch, gebiert die Erde neue Gebirge doch unter dem Meeresspiegel, während es der Welt über dem Meeresspiegel obliegt, sie mit Wind und sehnsuchtsvollen Blicken wieder abzutragen.

All dies und vieles mehr lernte ich in diesen Jahren. Dem Menschlichen maß ich dabei jedoch immer weniger Relevanz bei. Ohne meine Erfolge als Alpinist und Forscher wäre mir vermutlich eine gänzlich andere Rolle in der Gesellschaft zugefallen. So aber liebten die Menschen mich als Dandy und Lebemann, dem sein Erfolg einfach in den Schoß fiel. Aber woher sollten sie auch wissen, welche Leidenschaft mich zu all diesen Leistungen beflügelte? Ich wusste ja selber nicht mehr darüber, als ihre Auswirkung vermuten ließ. Seine Geheimnisse gibt der Schiefer nur jenen Preis, die seine Schichten sprengen.

Sie alle verkannten jedoch meine Natur, als sie mich für einen ungeschliffenen Diamanten hielten. Oh und wie sie versuchten mich zu schleifen! Reihenweise suchten mich die Töchter guter und besserer Häuser als zukünftigen Gatten, als Bräutigam und Vater noch besserer Kinder aus. Doch wurden sie nicht schlau aus dem, was ihre Handarbeit aus mir machte. Ich wollte partout nicht in ihre Formen passen. Statt aber die Schuld hierfür bei mir zu suchen, taten sie es mit allerlei Getue als ihr eigenes Versagen ab. Mich scherte es nicht weiter. Die einzige Leidenschaft, die ich empfand, war die zur Geologie. Dies dachte ich zumindest.

Bis mir meine Königin begegnete!

An jenem schicksalhaften Tag lag die Welt da wie in Bernstein gegossen. Der Winter hatte das Land in seine kalten Arme geschlossen und fast schien es, als wolle er diese Umarmung nie wieder lösen. Just an diesem Tag zeigte sich zum ersten Mal seit einer Woche die Sonne. Der Himmel wölbte sich topasfarben über das Land. Schnee und Eis formten eine fast keramische Hülle, die über allem lag, das stabil genug war, um nicht unter der Last zusammenzubrechen. Mit Beginn des neuen Semesters hatte man mir eine Professur an der Universität angeboten, die ich sofort annahm. Schließlich erkannte ich sie als Chance, meine Forschungen weiter zu betreiben und dabei keine Gedanken an mein Auskommen verschwenden zu müssen.

Durch die Jahreszeit lag jedoch nicht nur die Welt auf Eis. Jeden Tag wanderte ich auf denselben verschlungenen Wegen über den verlassenen Campus. Folgte einer Spur, die sich dem menschlichen Auge verschloss. Die meisten Studenten hatten die Universität über die Ferien verlassen. Die wenigen Menschen, die über die Feiertage nicht zu ihren Familien gefahren waren arbeiteten entweder, um ihr Studium zu finanzieren oder es mangelte ihnen an Motiven für eine Heimkehr. Aber bei ihr war das ganz offensichtlich anders.

Sie hatte keine Motive für, sondern war das Motiv für etwas. Für alles! Selbst aus der Ferne erweckte es den Eindruck, als ordne sich die Welt ihr unter. Das Licht aus den Myriaden Schneekristallen unterstrich ihre makellose Haut. Jeder ihrer Schritte traf auf sicheren Grund, so als ahnte das Eis von ihrer Majestät, als schmolz das Eis unter ihren Füßen lieber, als ihr Schaden zuzufügen.
Jeder Blick ihrer Augen hatte Bedeutung. Er berührte etwas in den Dingen und Wesen, die er traf, maß sie auf eine Art, dass man schier daran zu Grunde gehen wollte. Sogar die Eisblumen reckten ihre starren Köpfchen, um zu sehen wer dort ging.

Der innere Schiefer geriet in Bewegung und mich fröstelte.
Vor mir ging meine zukünftige Königin!

Ich wollte meine Schritte in ihre Richtung lenken, wollte ihren Weg scheinbar zufällig kreuzen. Doch keines meiner Beine wollte noch gehorchen. Wie irr zerrte ich an ihnen, wollte ihnen meinen Willen mit Gewalt aufzwingen, aber nichts half.
Wütend blickte ich mich um, suchte jemand der Schuld haben musste, bis mein Blick schließlich ihren traf und getroffen floh! Sie war es! Sie hatte meinen Beinen Einhalt geboten. In mir brach etwas. Etwas warmes, etwas feuchtes, der Grund meiner Tränen und meines Glücks, das Wasser des Lebens war zu Eis erstarrt und dehnte sich in die Fugen meines Selbst aus. Jahrzehnte lang hatte es Schicht um Schicht des Ichgesteins durchtränkt, nun drückte es mit einer Unbarmherzigkeit nach außen, suchte Raum und wo es keinen fand, da schuf es. Raum wo keiner war. Und meine Königin war überall, durchmaß den Fels wie Hallen ihres Schlosses und schätzte meinen Wert.

Sie hauchte Worte tief in meine Seele, aber selbst ihre Fragen klangen nach Befehl. Bat Sie mich?!
„Wer bist du?“, hauchte sie. Ja, wer war ich überhaupt? Schichtgestein konnte ich mich nicht mehr länger nennen, nackt und entblößt wie ich nun vor ihr stand.
„Ich wusste es mal. Doch nun bin ich nicht länger sicher.“

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